Radikalisierung durch Gaza: Der globalisierte Hass
In Boulder, Colorado, griff ein Mann eine Demo für die Freilassung der israelischen Geiseln an. Es ist die Konsequenz einer gewaltvollen Rhetorik.

D en Anschlag soll der Täter ein Jahr lang geplant haben: Am 1. Juni warf Mohamed Sabry Soliman Molotowcocktails auf Demonstrierende in Boulder, Colorado. Medienberichten zufolge setzte der Mann, ursprünglich aus Ägypten, auch einen Flammenwerfer ein. Dabei soll er „Free Palestine“ geschrien haben. Laut FBI sagte er, er wolle „alle zionistischen Menschen töten“.
Die Menschen, die Soliman angriff, hatten sich versammelt, um die Freilassung der israelischen Geiseln in Gaza zu fordern, die die islamistische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober verschleppte und seit mehr als 600 Tagen gefangen hält, foltert, verhungern lässt und sexuell missbraucht. Getroffen hat seine Gewalt friedliche Personen, deren Protestform nichts anderes war als ein Solidaritätsspaziergang, ein „Lauf für ihr Leben“, wie sie es in Bezug auf die Entführten nannten. Der Attentäter verletzte zwölf Menschen, acht von ihnen mussten im Krankenhaus wegen Verbrennungen behandelt werden. Eines der Opfer war eine 88-jährige Holocaustüberlebende.
Der Anschlag in Boulder ist der jüngste in einer erschreckenden Chronik des internationalen Terrors seit dem 7. Oktober 2023, der Tag, an dem die Hamas und weitere palästinensische Terrororganisationen Israel überfielen. Der darauffolgende Krieg in Gaza, der den Küstenstreifen in Trümmern hinterlassen und Zehntausende Menschenleben gekostet hat, emotionalisiert – zu Recht. Er radikalisiert auch.
Zehn Tage vor dem Anschlag in Boulder ermordete Elias Rodriguez zwei Mitarbeiter*innen der israelischen Botschaft in Washington, D.C., als sie eine Veranstaltung des American Jewish Committee im Jüdischen Museum verließen: Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim. Die beiden waren ein Paar, Lischinsky hatte einen Verlobungsring gekauft und wollte eine Woche später in Jerusalem einen Heiratsantrag stellen. Die Veranstaltung, die sie besuchten, hatte zum Ziel, Brücken in Nahost zu bauen. Rodriguez schoss die beiden in den Rücken. Als sie zu Boden fielen, schoss der Täter weiter, auch als Milgrim versuchte, verletzt wegzukriechen. Rodriguez betrat dann das Jüdische Museum. Er konnte keine weiteren Menschen ermorden, weil die Polizei ihn kurze Zeit danach festnahm. Dabei rief auch er: „Free, free Palestine!“
„Exterminate Zionists!“
Einen Beitrag auf der Social-Media-Plattform X titelte Rodriguez „Eskalation für Gaza, bringt den Krieg nach Hause“. Darin rechtfertigte er „bewaffnete Aktionen“. Der Täter war bis 2017 für eine kurze Zeit in der Party for Socialism and Liberation, die sich prompt vom Anschlag distanzierte. So weit entfernt sind die Morde von ihrer Ideologie allerdings nicht. Auf einem Aufkleber der Partei, der 2023 im Internet kursierte, steht: „Exterminate Zionists!“ – Zionisten ausrotten.
Es gibt bereits Kampagnen von linken und propalästinensischen Gruppen, den Washington-Attentäter Rodriguez freizulassen. Die Morde bezeichnen sie als „legitimen Akt des Widerstands“. Ein amerikanischer Tiktoker mit mehr als drei Millionen Followern ruft in einem Video zur Unterstützung von Rodriguez auf und bezeichnet ihn als „Widerstandskämpfer“. In der unmittelbaren Nähe der Berliner Humboldt-Universität tauchten Plakate auf, mit roten Dreiecken – das Symbol, mit dem die Hamas Ziele markiert –, einem Foto von Yaron Lischinsky und die Worte: „Make Zionists Afraid“.
Die Anschläge in Boulder und Washington sind nur zwei prominente Beispiele, die für ein großes Medienecho sorgten. Viele Vorfälle bekommen kaum Aufmerksamkeit. Häufig trifft diese Gewalt israelische Institutionen im Ausland: In Mexiko-Stadt und Bukarest warfen Täter Molotowcocktails vor den dortigen Botschaften. In München eröffnete ein Mann das Feuer auf das Generalkonsulat. In Kopenhagen explodierten Granaten vor der Botschaft. In Belgrad griff ein Mann die Botschaft mit einer Armbrust an. Und in Stockholm versuchten zwei Teenager, mutmaßlich im Auftrag Irans, die Botschaft mit Schusswaffen zu attackieren.
Die Gewalt trifft auch jüdische Einrichtungen weltweit: Die ADL, eine amerikanische NGO, die Antisemitismus bekämpft, verzeichnet dort 2.000 Vorfälle an Institutionen wie Synagogen seit dem 7. Oktober, mehr als die Hälfte davon Bombendrohungen. In Brooklyn plante ein Mann eine Massenschießerei in einem jüdischen Zentrum. In Pennsylvania setzte ein Mann das Haus des jüdischen Gouverneurs Josh Shapiro in Flammen. In Berlin warfen zwei vermummte Männer Molotowcocktails auf die Synagoge in der Brunnenstraße. Und in Rouen zündete ein Mann eine Synagoge an.
Von Brooklyn bis Berlin
Terroristische Anschläge wie diese sind die Konsequenz einer gewaltvollen Rhetorik, der in den sozialen Medien und auf der Straße kaum widersprochen wird, geschweige denn, dass sie verurteilt würde. Eine Rhetorik, die dazu aufruft, Feinde zu eliminieren und den jüdischen Staat Israel auszulöschen. Von Brooklyn bis Berlin skandieren Aktivist*innen, sie wollen „die Intifada globalisieren“. In Boulder und Washington sieht man das Ergebnis.
Nun sind alle gefragt, die Folgen dieser Radikalisierung einzudämmen: Politik, Justiz, Zivilgesellschaft. Aber vor allem die Palästina-Bewegung selbst, die den Resonanzraum geschaffen hat, in dem Menschen zu Gewalt animiert werden und Täter zur Tat schreiten. Denn selbst nach Ende des Gaza-Kriegs, das nicht schnell genug kommen kann, werden Fragmente dieser autoritären Ideologie zurückbleiben. Ist das das, wofür ihr steht? Und wenn nicht: Was werdet ihr dagegen tun?
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