piwik no script img

Radikalisierung durch GazaDer globalisierte Hass

Nicholas Potter
Kommentar von Nicholas Potter

In Boulder, Colorado, griff ein Mann eine Demo für die Freilassung der israelischen Geiseln an. Es ist die Konsequenz einer gewaltvollen Rhetorik.

Trauer im Boulder Jewish Community Center nach dem Anschlag, 2. Juni 2025 Foto: Chet Strange/getty images

D en Anschlag soll der Täter ein Jahr lang geplant haben: Am 1. Juni warf Mohamed Sabry Soliman Molotowcocktails auf Demonstrierende in Boulder, Colorado. Medienberichten zufolge setzte der Mann, ursprünglich aus Ägypten, auch einen Flammenwerfer ein. Dabei soll er „Free Palestine“ geschrien haben. Laut FBI sagte er, er wolle „alle zionistischen Menschen töten“.

Die Menschen, die Soliman angriff, hatten sich versammelt, um die Freilassung der israelischen Geiseln in Gaza zu fordern, die die islamistische Terror­organisation Hamas am 7. Oktober verschleppte und seit mehr als 600 Tagen gefangen hält, foltert, verhungern lässt und sexuell missbraucht. Getroffen hat seine Gewalt friedliche Personen, deren Protestform nichts anderes war als ein Solidaritätsspaziergang, ein „Lauf für ihr Leben“, wie sie es in Bezug auf die Entführten nannten. Der Attentäter verletzte zwölf Menschen, acht von ihnen mussten im Krankenhaus wegen Verbrennungen behandelt werden. Eines der Opfer war eine 88-jährige Holocaustüberlebende.

Der Anschlag in Boulder ist der jüngste in einer erschreckenden Chronik des internationalen Terrors seit dem 7. Oktober 2023, der Tag, an dem die Hamas und weitere palästinensische Terrororganisationen Israel überfielen. Der darauffolgende Krieg in Gaza, der den Küstenstreifen in Trümmern hinterlassen und Zehntausende Menschenleben gekostet hat, emotionalisiert – zu Recht. Er radikalisiert auch.

Zehn Tage vor dem Anschlag in Boulder ermordete Elias Rodriguez zwei Mit­ar­bei­te­r*in­nen der israelischen Botschaft in Washington, D.C., als sie eine Veranstaltung des American Jewish Committee im Jüdischen Museum verließen: Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim. Die beiden waren ein Paar, Lischinsky hatte einen Verlobungsring gekauft und wollte eine Woche später in Jerusalem einen Heiratsantrag stellen. Die Veranstaltung, die sie besuchten, hatte zum Ziel, Brücken in Nahost zu bauen. Rodriguez schoss die beiden in den Rücken. Als sie zu Boden fielen, schoss der Täter weiter, auch als Milgrim versuchte, verletzt wegzukriechen. Rodriguez betrat dann das Jüdische Museum. Er konnte keine weiteren Menschen ermorden, weil die Polizei ihn kurze Zeit danach festnahm. Dabei rief auch er: „Free, free Palestine!“

„Exterminate Zionists!“

Einen Beitrag auf der Social-Media-Plattform X titelte Rodriguez „Eskalation für Gaza, bringt den Krieg nach Hause“. Darin rechtfertigte er „bewaffnete Aktionen“. Der Täter war bis 2017 für eine kurze Zeit in der Party for Socialism and Liberation, die sich prompt vom Anschlag distanzierte. So weit entfernt sind die Morde von ihrer Ideologie allerdings nicht. Auf einem Aufkleber der Partei, der 2023 im Internet kursierte, steht: „Exterminate Zionists!“ – Zionisten ausrotten.

Es gibt bereits Kampagnen von linken und propalästinensischen Gruppen, den Washington-Attentäter Rodriguez freizulassen. Die Morde bezeichnen sie als „legitimen Akt des Widerstands“. Ein amerikanischer Tiktoker mit mehr als drei Millionen Followern ruft in einem Video zur Unterstützung von Rodriguez auf und bezeichnet ihn als „Widerstandskämpfer“. In der unmittelbaren Nähe der Berliner Humboldt-Universität tauchten Plakate auf, mit roten Dreiecken – das Symbol, mit dem die Hamas Ziele markiert –, einem Foto von Yaron Lischinsky und die Worte: „Make Zionists Afraid“.

Die Anschläge in Boulder und Washington sind nur zwei prominente Beispiele, die für ein großes Medienecho sorgten. Viele Vorfälle bekommen kaum Aufmerksamkeit. Häufig trifft diese Gewalt israelische Institutionen im Ausland: In Mexiko-Stadt und Bukarest warfen Täter Molotowcocktails vor den dortigen Botschaften. In München eröffnete ein Mann das Feuer auf das Generalkonsulat. In Kopenhagen explodierten Granaten vor der Botschaft. In Belgrad griff ein Mann die Botschaft mit einer Armbrust an. Und in Stockholm versuchten zwei Teenager, mutmaßlich im Auftrag Irans, die Botschaft mit Schusswaffen zu attackieren.

Die Gewalt trifft auch jüdische Einrichtungen weltweit: Die ADL, eine amerikanische NGO, die Antisemitismus bekämpft, verzeichnet dort 2.000 Vorfälle an Institutionen wie Synagogen seit dem 7. Oktober, mehr als die Hälfte davon Bombendrohungen. In Brooklyn plante ein Mann eine Massenschießerei in einem jüdischen Zentrum. In Pennsylvania setzte ein Mann das Haus des jüdischen Gouverneurs Josh Shapiro in Flammen. In Berlin warfen zwei vermummte Männer Molotowcocktails auf die Synagoge in der Brunnenstraße. Und in Rouen zündete ein Mann eine Synagoge an.

Von Brooklyn bis Berlin

Terroristische Anschläge wie diese sind die Konsequenz einer gewaltvollen Rhetorik, der in den sozialen Medien und auf der Straße kaum widersprochen wird, geschweige denn, dass sie verurteilt würde. Eine Rhetorik, die dazu aufruft, Feinde zu eliminieren und den jüdischen Staat Israel auszulöschen. Von Brooklyn bis Berlin skandieren Aktivist*innen, sie wollen „die Intifada globalisieren“. In Boulder und Washington sieht man das Ergebnis.

Nun sind alle gefragt, die Folgen dieser Radikalisierung einzudämmen: Politik, Justiz, Zivilgesellschaft. Aber vor allem die Palästina-Bewegung selbst, die den Resonanzraum geschaffen hat, in dem Menschen zu Gewalt animiert werden und Täter zur Tat schreiten. Denn selbst nach Ende des Gaza-Kriegs, das nicht schnell genug kommen kann, werden Fragmente dieser autoritären Ideologie zurückbleiben. Ist das das, wofür ihr steht? Und wenn nicht: Was werdet ihr dagegen tun?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Nicholas Potter
Redakteur
Nicholas Potter ist Redakteur bei taz zwei (Gesellschaft/Medien). 2024 war er Fellow des Internationalen Journalistenprogramms bei der Jerusalem Post. Im selben Jahr wurde er für den Theodor-Wolff-Preis nominiert. Seine Texte sind auch im Guardian, Tagesspiegel, der Jüdischen Allgemeinen und der Haaretz erschienen. Er ist Mitherausgeber des Buches "Judenhass Underground" (2023).
Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Punktgenauer Treffer, Herr Potter.

    Das was dort passiert und der aufschäumende internationale Antisemitismus sind das exakte Resultat dessen was am 07. Oktober 2023 mit dem Massaker auf dem Nova-Friedensfestival durch die Hamas, eine der Söldnertruppen Irans, geplant und initiiert wurde.

    Und nein, es wird nach dem Ende des Gaza-Krieges nicht aufhören. Der Antisemitismus ist nach 1945 wieder erwacht, er wird weiter geschürt werden, "wieder und wieder" und überall.

  • "Denn selbst nach Ende des Gaza-Kriegs, das nicht schnell genug kommen kann, werden Fragmente dieser autoritären Ideologie zurückbleiben."

    Diese autoritäre Ideologie ist ursächlich für den Gazakrieg, war und ist es doch erklärtes Ziel Israel zu vernichten.

  • Dieser Artikel greift in zweierlei Hinsicht zu kurz.



    Erstens konstruiert er ein homogenes Bild der Palästina-Solidaritätsbewegung und impliziert, sie müsse für jede radikalisierte Äußerung Verantwortung übernehmen. Doch gerade weil es sich um eine vielfältige, dezentrale Bewegung handelt – von NGOs über migrantische Gruppen bis zu radikaleren Akteuren – kann sie keine vollständige Kontrolle über alle Positionen ausüben. Diese Erwartung verkennt die Struktur sozialer Bewegungen und führt zu pauschaler Schuldzuweisung.

    Zweitens ignoriert der Text, dass die Gewalt, die wir derzeit erleben, nicht nur auf „aufgeheizte Rhetorik“ zurückgeht, sondern vor allem eine Reaktion auf die brutale Realität der letzten Jahre ist: systematische Vertreibung, Massenbombardements, die Aushungerung der Bevölkerung in Gaza und die gezielte Tötung zehntausender Zivilisten. Repression erzeugt Radikalisierung – das zeigen auch die Entstehungskontexte von Al-Qaida und IS. Netanjahu instrumentalisiert diese Dynamik gezielt: Gewalt provozieren, um sie als Vorwand für permanente Kriegsführung zu nutzen.

  • Prinzipiell stimmt das, was im Kommentar steht - und doch: wenn man etwas reflektiert, kommt man vielleicht an den Punkt anzuerkennen, dass "gewaltvolle[...] Rhetorik" Ergebnis eines dialogischen Radikalisierungsprozesses ist, an dem auch die Apologet*innen der Netanyahu-Regierung und der Kriegsführung der IDF mitwirken, von den faschistischen Kräften in Israel und ihren unsäglichen menschenverachtenden Äußerungen ganz zu schweigen. Zu behaupten, die beklagte Radikalisierung sei Ergebnis einer Echokammer ist naiv oder eine Schutzbehauptung für die Co-Konflikttreiber*innen auf der anderen Seite der ideologischen Wasserscheide.

    • @My Sharona:

      Sie übersehen etwas ganz Entscheidendes bei dieser schön geschriebenen Nebelkerze

      Die Rethorik aus Israel lässt nicht Palästinenser weltweit um ihr Leben fürchten. Die Rethorik über Israel hingegen, wie mehrfach geschehen, unschuldige Jüdinnen und Juden schon.

      Das sagt sehr viel über die "einzelnen Lager" aus.

    • @My Sharona:

      Der "dialogische" Radikalissierungsprozess hat lange vor Netanjahu angefangen.

      de.m.wikipedia.org...C3%A4gen_in_Israel

      Oder auch der von Arabern begonnene Krieg 1947, oder der Bürgerkrieg in den 30er Jahren, oder die Befreiung Hebrons von Juden 1929 oder das Pogrom gegen Juden während der Nabi-Musa-Unruhen 1920 in Jerusalem.

      de.m.wikipedia.org.../Nabi-Musa-Unruhen

      de.m.wikipedia.org..._von_Hebron_(1929)

      Zu behaupten, es gäbe keine antisemitische Echokammer und den Juden auch noch selbst die Schuld an ihrer Ermordung zuzuschieben, trägt genau zu solchen Terroranschlägen wie den im Text beschriebenen bei.

    • @My Sharona:

      Zustimmung. Kein Übergriff und kein Hass gegen kann in irgendeiner Weise gerechtfertigt werden.



      Die Konsequenz allerdings, speißt sich aus einem komplett polarisierten, vernagelten und in jeder Weise unverzeihlichen Diskurs, der von den extremistischen Kräften auf beiden Seiten initiert und von ideologischen Scheuklappenträgern weltweit betoniert wird. Die Echokammern gibts auf beiden Seiten dieser Mauer, die auch weit weg von Nahost und persönlicher Betroffenheit wie eine Ersatzreligion gepflegt wird.

  • Ein guter Kommentar.



    Mord kann nie und nimmer "ein Akt des legitimen Widerstandes sein" --- nicht auf palästinensischer Seite, nicht auf israelischer Seite --- NIRGENDWO.

  • Diese Gewalt ist eine logische Folge der Rhetorik der letzten Monate und Jahre. Insbesondere die ganzen Boykott-Aufrufe stoßen mir dabei übel auf: Nicht allein Unternehmen und Institutionen, die direkt am Krieg beteiligt sind, sollen boykottiert werden, sondern auch israelische Künstler, Wissenschaftler usw. Ganz normale israelische Bürger müssen mit Hass und Ausgrenzung klarkommen. Und dazu kommt dann noch wie üblich eine große Prise Antisemitismus, sodass auch jüdische Bürger angegriffen werden.

    Bei aller legitimen Kritik an Israel muss da rhetorisch unbedingt ein paar Gänge zurückgeschaltet werden.

    Und es ist auffällig, dass es keine vergleichbaren Anschläge und Angriffe auf russische Menschen gibt. Millionen Russen und russischstämmige Personen können friedlich in Europa leben.

    • @gyakusou:

      . Und es ist auffällig, dass es keine vergleichbaren Anschläge und Angriffe auf russische Menschen gibt. Millionen Russen und russischstämmige Personen können friedlich in Europa leben'

      Ich hoffe, das ist jetzt nicht wirklich als Aufruf zu verstehen?

  • Wäre zu wünschen, dass dieser Artikel wirklich zum Nachdenken in einer sich immer mehr radikalisierenden Hassblase führt.