Kriegsvideos und Ego-Shooter: Kein Computerspiel, sondern real

Viele Menschen verdrängen bei beim Betrachten von Kriegsvideos, dass sie hier die Realität sehen. Auch, wenn diese daherkommt wie ein Ballerspiel.

Abschuss einer Rakete

Grausame Realität: Abschuss einer russischen Rakete Foto: Russisches Verteidungsministerium via ap

Anfang Januar tauchte in der Russischen Föderation in patriotischen Telegram-Gruppen ein Kampfvideo auf, das mit der Helmkamera eines Soldaten gefilmt worden war. Der Soldat rennt im Wald auf zwei bewaffnete ukrainische Soldaten in einem Schützengraben zu.

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Er fordert sie lautstark auf, sich zu ergeben, und versucht einem von ihnen das Maschinengewehr aus der Hand zu reißen. Der, ganz offensichtlich unter Schock, gibt es nicht her. Da erschießt der Soldat beide. In den Kommentaren gab es überwiegend Zustimmung: „Für den Sieg!“ oder „Ihr seid super, Gott beschütze euch“.

Zuerst konnte ich diese Reaktion auf den Tod eines Menschen gar nicht begreifen. Bis ich feststellte, dass die allermeisten Kommentatoren das, was sie da sahen, eher wie eine Art Computerspiel wahrnahmen.

Und tatsächlich erinnert das Video auch mehr an einen Angriff aus der Ich-Perspektive, wie in dem amerikanischen Ego-Shooter-Spiel „Call of Duty“, wo der Gegner nur noch als virtueller Bot gesehen wird. Der Zuschauer riecht nicht das Schießpulver, sein Adrenalinspiegel ist im Normbereich und er ist nicht in Gefahr. Der Krieg in der Ukraine ist für ihn nichts als eine Projektion auf seinem Smartphone-Display, die ähnliche Emotionen auslöst wie ein Fußballmatch, wo es „unsere“ und die Gegenmannschaft gibt und „unsere“ gewinnen müssen.

Krieg ist kein Spiel

Der Krieg ist für sie nicht real. Sie wissen nicht, wie eine verbrannte Leiche riecht, haben noch nie einen zerfetzen Körper gesehen. Im russischen Fernsehen erzählt man ihnen vom baldigen Sieg, von Hochpräzisionswaffen, die wissen, wie man Zivilisten erkennen kann.

Und die Leute glauben das. Genauso, wie sie an die „Entnazifizierung der Ukraine“ und die „Verteidigung des Donbass“ glauben. Für sie sind sogar öffentliche Repressalien gegen „Verräter“ in Form von Hammerschlägen auf den Kopf normal.

Hoffnung machen einem nur die, die verstehen, was passiert, und versuchen, der lauten Mehrheit begreiflich zu machen, dass Krieg kein Spiel ist und dass dabei Menschen sterben – auf beiden Seiten übrigens

Vor vielen Jahren habe ich so etwas einmal gesehen. Ich habe Leichen gesehen, viele Leichen. Ich habe Mütter gesehen, die zwischen schwarzen Plastiktüten nach ihren Kindern suchten und versuchten, sie anhand ihrer Zahnfüllungen zu identifizieren. Ich habe Särge auf den Straßen gesehen und Väter, die weinend über den Leichen ihrer Söhne zusammenbrachen. Das war in der nordossetischen Stadt Beslan nach dem Terrorangriff im Jahr 2004, als Terroristen eine Schule in ihre Gewalt brachten und 333 Menschen dabei starben, darunter 186 Kinder.

Game over, aber in echt

Jetzt passiert so etwas in der Ukraine. Aber es gibt hier kein „Respawn“, keine Wiederbelebung wie in einem Computerspiel. Niemand steht wieder auf und gewinnt doch noch. Oder läuft wieder los. Kein Soldat zu einem neuen Angriff, keine Tochter zu ihrer Mutter, kein Sohn zu seinem Vater.

Weil sie bereits tot sind.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgebracht.

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der Autor ist Journalist und lebt in Wladikawkas, der Hauptstadt Nordossetiens im Kaukasus. Er schreibt unter Pseudonym.

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Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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