Der Titelessay : Wozu Kinder?
Die komplette Ignoranz gegenüber Kindern und Jugendlichen ist keine „Krise“ oder Anomalie, sondern ein systemisches Problem.
taz FUTURZWEI | Also mit dem Klimawandel, für den sich ja neuerdings niemand mehr interessiert, ist es ja so, dass seine Folgen immer handfester werden, auch in Bereichen, an die man gar nicht gedacht hatte.
Eine viertel Milliarde Kinder weltweit, berichtet Unicef, konnten 2024 nicht in hinreichendem Maße beschult werden, weil Hitzewellen und andere extreme Wetterereignisse sie daran hinderten, ihren Unterricht zu besuchen.
Die Folgen sind allerdings mehr als ein bisschen Unterrichtsausfall wegen „hitzefrei“ – viele Kinder kehren nach den Katastrophen nicht mehr in die Schulen zurück, weil sie plötzlich Klimaflüchtlinge sind oder weil es ihre Schulen gar nicht mehr gibt.
Kinderarbeit statt Unterricht?
Statt Unterricht zu haben, landen sie in der Kinderarbeit – was sich übrigens aus Fabrikanten-, Sub- und Subsubunternehmersicht wunderbar damit trifft, dass in der aktuellen Retrozeitenwende in der Politik so etwas wie ein Lieferkettengesetz doof gefunden wird, weshalb die Kinder nun doch fein die Klamotten zusammenklöppeln können, die deutsche Konsumentinnen und Konsumenten so günstig wie möglich zu erwerben trachten.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°32: Wozu Kinder?
Kinder und Jugendliche sind die politisch ignorierteste Randgruppe der Gesellschaft. Dabei muss diese Minigruppe demnächst die vielen Renten bezahlen und den ganzen Laden am Laufen halten. Was muss sich ändern?
Mit Aladin El-Mafaalani, Marlene Engelhorn, Arno Frank, Ruth Fuentes, Maja Göpel, Robert Habeck, Celine Keller, Wolf Lotter, Lily Mauch, Luisa Neubauer, Henrike von Scheliha, Stephan Wackwitz und Harald Welzer.
Jaja, so komplex hängen die Dinge zusammen, und auch wenn das Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil zum Klimaschutz die Rechte kommender Generationen fixiert hat, sagt die bundesdeutsche Realität einfach: Scheiß drauf! Kinder und Jugendliche sind als Wählergruppe irrelevant, nur 14 Prozent der Wahlberechtigten sind unter dreißig Jahre alt, bei der übernächsten Bundestagswahl bilden Rentnerinnen und Rentner schon die größte Wählergruppe.
Die Demografie erklärt einiges
Politik, die bereits heute mehrheitlich von Fünfzigplus-Regierenden gemacht wird, wird dann von Leuten für Leute gemacht, die weder im Arbeitsleben stehen noch irgendeine der von ihnen verantworteten Entscheidungen nachhaltig am eigenen Leben spüren. Sie haben ja, wie Friedrich Merz, ihre Zukunft schon hinter sich, prätendieren aber unverfroren lautstark ihren Anspruch, diese zu gestalten.
So erklärt schon die Demografie, weshalb Kinder keine Chance haben, in der Gestaltung ihres Gemeinwesens Einfluss zu haben. Doof. Aber nicht nur für die Kinder.
Denn eine Gesellschaft, die den nachrückenden Generationen nicht dieselben Chancen einräumt, die amtierende Generationen hatten und haben, gerät politisch in massive Schwierigkeiten.
Das hat schon Norbert Elias vor ein paar Jahrzehnten in seinen Studien über die Deutschen gezeigt, das wissen wir aus der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und das zeigen jetzt Aladin El-Mafaalani und Kollegen eindrucksvoll am Beispiel der kompletten Ignoranz gegenüber den Kindern und Jugendlichen, die das Pech hatten, erst nach der Jahrtausendwende auf die Welt zu kommen.
2007, der Krisenjahrgang
Die 2007er-Generation, schreiben sie, deren Angehörige dieses Jahr volljährig und wahlberechtigt werden, haben das komplette Package des neuen Krisenzeitalters serviert bekommen: Während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 wurden ihnen die Turnhallen enteignet und die Klassen geflutet, dann machten die Fridays for Future ihnen klar, dass sie klimazukunftsmäßig ein Problem haben, dann verdammte die Pandemie sie zu Homeschooling und Stoßlüften, und dann sollten sie auch am besten noch kriegstüchtig werden, mit Wehrpflicht und allem Drum und Dran.
Dankeschön, sagten die Kids daraufhin mehrheitlich und orientierten sich zur grenzenlosen Irritation des politischen Journalismus zu den politischen Rändern hin.
Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Magazins für Zukunft und Politik tazFUTURZWEI.
Komisch, wo doch die etablierten Parteien nicht mal in der Lage waren, ihnen nach der Pandemie kostenlose Jahreskarten für Schwimmbäder und Kinobesuche zu offerieren. Der Bundespräsident, einer der ausgewiesenermaßen zukunftsfähigsten Bürger dieses Landes, forderte stattdessen ein soziales Pflichtjahr, gern geschehen.
Apropos: Sehr gern erinnere ich mich, wie bei einem Treffen bei eben diesem Bundespräsidenten er am Ende eines Gesprächs mit einer ziemlich diversen Gruppe, die der Zukunft halber geladen war, die Frage stellte, was man sich denn von ihm wünschen würde, wenn man einen Wunsch frei hätte.
Worauf eine junge Klimaaktivistin ihm mitteilte, sie halte es für Unernst, von einem Vertreter einer politischen Generation, die ohne Rücksicht auf Klima- und Umweltschäden unausgesetzt eine zerstörerische Wirtschaft fördere, wie im Kindermärchen angeboten zu bekommen, sich etwas von ihm zu wünschen.
Die Teflon-Gesellschaft
Selbstverständlich perlte das am Präsidenten präsidial ab, ohne jede Irritation hervorzurufen – es sei nun mal, erklärte er, kompliziert, und in der Politik könne man oft nicht so, wie man wolle. Teflonmäßig war das, und wenn ich es mir so recht überlege: Teflon ist ja tatsächlich das Material, dass die westliche Nachkriegsgeschichte symbolisiert wie nichts anderes.
Auf der Homepage von Teflon liest man, dass dieses 1946 in den Handel gekommene Fluorpolymer als das glatteste Material gilt, das es gibt. „Damit ist es eine der wertvollsten und vielseitigsten Technologien, die erfunden wurden. Viele Branchen – die Luft- und Raumfahrt, Kommunikation, Elektronik, industrielle Prozesse und Architektur – verdanken einige ihrer bedeutenden Fortschritte dem Werkstoff PTFE.
Seit ihrer Eintragung im Jahr 1945 ist die Marke Teflon™ zu einer bekannten Marke geworden, die weltweit für die überlegenen Antihafteigenschaften bekannt ist.“
Irgendwie haben sich diese Antihafteigenschaften auf metaphysische Weise von der Raumfahrt über die Bratpfanne in den Habitus der Boomer-Generation übertragen – unerklärlicherweise hat die ja die privilegierteste Lebenssituation in der bis dato gelebten Generationenkette genießen dürfen, und es sieht nicht so aus, als würden die kommenden Generationen an vergleichbarem Genuss teilhaben dürfen.
Sozialdemokratie als Schwundstufe
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin Boomer und verdanke meinen Bildungs- und Sozialaufstieg einer politischen Programmatik, wie sie der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 formuliert hatte: „Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt. [...] Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Die Schule der Nation ist die Schule. [...] Die Bundesregierung wird sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, noch nicht annähernd erfüllt wurde. Die Bildungsplanung muss entscheidend dazu beitragen, die soziale Demokratie zu verwirklichen.“
Wie gern hätte ich so etwas von Robert Habeck im Wahlkampf gehört, wie schmerzlich absent sind solche Überlegungen in der Schwund-Sozialdemokratie von Olaf Scholz.
Die Bildung kritischer und urteilsfähiger Bürgerinnen und Bürger haben sie leichthändig an die Social-Media-Plattformen, an Seiteneinsteiger-Lehrkörper und an Frau Stark-Watzinger abgegeben.
Damit ist zugleich die Grundvoraussetzung der freiheitlichen Demokratie unterminiert, und folgerichtig orientiert sich ein immer größerer Teil an extremen Parteien oder an dem Stuss, der die gute alte Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge für überholt hält.
Das systemische Problem
Das muss man kapieren: dass die freiheitliche Ordnung, die nun fast überall vom Knetozän-Autoritarismus überrollt wird, nur dann eine Chance auf Bewahrung hat, wenn es hinreichend viele Menschen gibt, die sich qua eigener Urteilsfähigkeit für sie einsetzen.
Wenn es für die Kinder und Jugendlichen im Land keine Willkommenskultur gibt, sondern ihnen verkackte Schulklos und Hilfspersonal die praktische Mitteilung machen, dies hielte die Gesellschaft für ausreichend für sie, dann wird diese Generation eben auf ihre Weise antworten. Danke für nichts.
Als wir dieses Heft gemacht haben, habe ich etwas ganz neu verstanden: Wir haben es bei dem Verwahrlosenlassen einer Generation nicht mit einer „Krise“ oder einer Anomalie zu tun, sondern mit einem systemischen Problem.
Exakt wie beim Klimawandel, beim Artensterben, bei den Infrastrukturen, dem Frieden. Und diesen ganzen hirnlosen Heilsversprechen mit Innovation, Disruption und – die vor allem – KI!
Wozu nun Kinder?
Das alte System, das sich Hartmut Rosa zufolge nur dynamisch stabilisieren kann, also durch permanente Steigerung und permanentes Wachstum, ist am Ende, wenn es noch Freiheit, soziale Sicherheit, Aufstieg mit den tradierten Mitteln liefern möchte.
Es kann die Krisenbewältigung nicht mehr leisten, wenn man weiterhin glaubt, sie funktioniere innerhalb eines expandierenden Marktes, der so viel Mehrwert generiert, dass man davon Sozial-, Gesundheits-, Renten- und Bildungssysteme finanzieren kann. Isch over. Isch die Zeit für ganz neue, nicht marktförmige Organisations- und Regelungsformen von Solidarität, von care communities, aber zwangsläufig auch von Wohlstandsverlusten.
Wozu Kinder? Weil das die einzige Möglichkeit ist, aus der Narrenhölle der Libertären und Technofaschisten wieder herauszukommen. Wenn man sie denn willkommen heißt, unsere Kinder.
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