Der Tempelberg in Jerusalem: Umkämpftes Heiligtum
Immer wieder gibt es am Tempelberg Konflikte zwischen jüdischen Israelis und Palästinenser:innen. Warum scheint dieser Ort einen Krieg wert?
Seit der Woche vor Ostern gibt es erneut Konflikte zwischen jüdischen Israelis und Palästinenser:innen auf dem Tempelberg. Wieso passiert das immer wieder dort?
Jerusalem und insbesondere der Tempelberg in der Altstadt bilden das Zentrum des palästinensisch-israelischen Konflikts. Dort prallen verschiedene religiöse und politische Interessen direkt aufeinander. Dass am vergangenen Wochenende Ostern, Pessach und Ramadan zusammenfielen, hat die Situation noch explosiver gemacht.
Welche religiöse Bedeutung hat der Tempelberg für Jüdinnen und Juden und Muslime?
Der Tempelberg ist für Anhänger:innen der abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam –, vor allem aber für Jüdinnen und Juden sowie Muslime, einer der heiligsten Orte. Auf einem Felsen dort soll Abraham beinahe seinen Sohn Isaak geopfert haben – eine Geschichte, die im Alten Testament und im Koran erzählt wird. Über diesen Felsen spannt sich heute der Felsendom mit seiner goldenen Kuppel, gegenüber liegt die Al-Aksa-Moschee. Im Arabischen wird der Tempelberg „al-Haram asch-Scharif“ genannt – das edle Heiligtum. Der Prophet Mohammed soll von ihm aus seine Himmelfahrt angetreten haben.
Für Jüdinnen und Juden ist der Berg heilig, weil dort bis zu seiner Zerstörung durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. der Zweite Tempel stand. Mit der Zerstörung begann die jüdische Diaspora – womit Jerusalem zum Sehnsuchtsort vieler Jüdinnen und Juden wurde. Vom Zweiten Tempel ist lediglich die Westmauer übrig, die heutige Klagemauer. Dort betrauern heute Gläubige den Verlust. Die Klagemauer ist eine Befestigungsmauer des Plateaus, auf dem die Al-Aksa-Moschee und der Felsendom stehen – Muslime und Jüdinnen und Juden beten an unmittelbar aneinander angrenzenden heiligen Stätten.
Das ist alles sehr lange her. Wie kommt es, dass diese Ereignisse noch heute so großen Einfluss auf die Situation in Jerusalem haben?
Für Palästinenser:innen, die keinen eigenen Staat haben und teils in von Israel besetzten Gebieten leben, ist der Tempelberg zu einem Symbol dafür geworden, dass ein palästinensisches Volk existiert – er verbindet die Palästinenser:innen in Gaza, im Westjordanland, Jerusalem, Israel und weltweit. Daraus lässt sich auch politisches Kapital schlagen: Die Gaza kontrollierende militante Hamas, präsentiert sich etwa als „Beschützer der Al-Aksa-Moschee“. Der elftägige Krieg zwischen der Hamas und Israel im vergangenen Mai hatte sich an Jerusalem und am Tempelberg entzündet. Im Jahr 2000 löste der Besuch von Ariel Sharon auf dem Tempelberg die zweite Intifada aus. In den vergangenen Tagen hat die Hamas Jerusalem und den Tempelberg mehrfach als „rote Linie“ bezeichnet.
Am vergangenen Montag und in der Nacht auf Donnerstag flog – zum ersten Mal seit Monaten – jeweils eine Rakete von Gaza auf israelisches Gebiet. Für den politischen Zionismus wiederum ist der Tempelberg gewissermaßen der Beweis, dass die Jüdinnen und Juden vor zweitausend Jahren dort schon einmal lebten und herrschten. Auf ihm bauen viele Zionist:innen ihren Anspruch auf das Land Israel auf.
Verschiedene Gruppen erheben also Besitzansprüche. Wem gehört der Tempelberg denn nun?
Jerusalem und der Tempelberg haben bereits unter zahllosen Reichen existiert, seit dem 7. Jahrhundert standen sie vor allem unter muslimischer Herrschaft. Zuletzt eroberte Israel im Sechstagekrieg 1967 die Altstadt Jerusalems von Jordanien. Eine von israelischen Soldaten über dem Tempelberg gehisste Fahne auf der Kuppel des Felsendoms ließ der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan jedoch schnell wieder einholen. Er wollte verhindern, dass religiöse Fanatiker:innen aller Seiten die Heiligtümer für sich alleine beanspruchten. Die Verwaltung des Berges übertrug er der jordanischen Waqf-Stiftung und handelte mit dem Königreich Jordanien einen sogenannten Status quo aus.
Von diesem Status quo ist immer wieder die Rede. Was besagt er denn genau?
Die Grundprämisse des Status quo ist, dass nur Muslime auf dem Tempelberg beten dürfen, während Nichtmuslime den Tempelberg zu bestimmten Zeiten besuchen dürfen. Doch dieser Status quo ist nicht schriftlich festgehalten, und über die Besuche von Nichtmuslimen auf dem Tempelberg gibt es seit einigen Jahren zwischen der Waqf-Stiftung und Israel Uneinigkeit. Seit der Zweiten Intifada kontrolliert die israelische Polizei die Besuche von Jüdinnen und Juden auf dem Tempelberg. Für Jordanien und die Palästinenser:innen ein Verstoß gegen die Vereinbarung. Sie fürchten, dass Israel am Status quo rütteln will.
Will Israel den Status quo tatsächlich verändern?
Laut Hagit Ofran von der israelischen Friedensbewegung „Peace Now“ hat Israel den Status quo bereits verändert: Die Polizei stand bis vor etwa zehn Jahren außerhalb der Tempelberg-Mauern, nun eskortiere sie ganze Gruppen jüdischer Besucher:innen auf das Gelände, was für Protest auf palästinensischer Seite sorgt. Die Besuche werden vor allem von der Tempelbewegung vorangetrieben – Gruppen, die Anspruch auf den Tempelberg erheben und dort auch beten wollen.
Wird Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin? In der taz am wochenende vom 23./24. April 2022 schauen wir auf Frankreich vor der Stichwahl, auf die Wähler:innen von Le Pen und auf die, die ihren Wahlsieg am meisten fürchten. Außerdem: Die Linkspartei in der Krise. Und: Wie das „Missoir“ für Geschlechtergerechtigkeit beim Pinkeln sorgt. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Ein prominenter Aktivist ist Jehuda Glick, von 2016 bis 2019 Parlamentsmitglied in Benjamin Netanjahus konservativer Likud-Partei. Er ist zugleich Direktor des Tempelinstituts, das den Bau des Dritten Tempels – nach dem Vorbild des Zweiten Tempels – dort erreichen will. Um die biblische Reinheit wiederzuerlangen, die es für den Bau des Tempels brauche, versuchen sie, eine makellose rote Kuh zu züchten, deren Asche nach dem vierten Buch Mose eine reinigende Wirkung haben soll. Sie haben in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen, und werden vor allem von Likud-Angehörigen unterstützt, darunter Ex-Polizeiminister Gilad Erdan, der laut Ofran auch für das veränderte Verhalten der Polizei auf dem Tempelberg verantwortlich war. Verteidigungsminister Benny Gantz hat letzte Woche beteuert, Israel sei dem Status quo verpflichtet.
Welchen Einfluss haben die Normalisierungsabkommen mit arabischen Ländern auf den Konflikt um den Tempelberg?
Im September 2020 haben Israel, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate das Abraham-Abkommen unterzeichnet, das „eine Kultur des Friedens zwischen den drei abrahamitischen Religionen“ fördern will. Damit haben einflussreiche arabische Länder einen direkten diplomatischen Draht zu Israel. Nach den jüngsten Ausschreitungen auf dem Tempelberg bestellte der emiratische Minister für internationale Kooperation den israelischen Botschafter ein und betonte, dass Israel „jede Praxis, die die Unverletzlichkeit der Al-Aksa-Moschee gefährde“, sofort einstellen müsse, um nicht den Frieden in der Region zu gefährden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste