Der Schmerz nach dem Fahrradklau: Ohne Rad steht alles still

Wird einem das Fahrrad geklaut, bringt das selbst manch Erwachsenen zum Weinen. Warum ist das so? Erkundung eines großen Verlustes.

Ein einzelnes Fahrradrad hängt an einem Fahrradständer

Das Rad ist weg – und damit auch das Vertrauen, dass es gerecht zugeht in dieser Welt Foto: Jens Kalaene/dpa

HAMBURG taz | „Die Welt kriegt einen Riss“, sagt mir ein Kollege. „Ich bin ein großer, nicht mehr so junger Mann und ich habe geweint“. Er weinte, weil ihm das geschah, was jedes Jahr 145.000 Mal einem Menschen geschieht und er verlor weder einen Freund noch einen Hund. Er verlor sein Fahrrad. Warum ist der Verlust eines Fahrrads etwas, das erwachsene Menschen weinen oder Selbstjustiz-Phantasien entwickeln lässt?

Wer sich mit dem Thema Fahrraddiebstahl befasst, hört ungefragt viele Erfahrungsberichte, so ungefragt, dass klar ist: hier möchte jemand noch einmal in die Welt rufen, welches Unrecht ihm und ihr widerfahren ist – und dieses Unrecht ist vollständig unabhängig vom materiellen Wert des Fahrrads. „Ich war 4,5 Jahre alt“, schreibt ein anderer Kollege. „Es war für mich der erste Moment, in dem ich gemerkt habe, wie böse die Welt doch eigentlich ist“. Es geht hier nicht um die Summe von Gepäckträger, Rahmen und Klingel, es geht um nichts weniger als den Verlust des Urvertrauens.

Interessant dabei ist, dass der Verlust auch hochaltrig so heftig trifft, als sei man wieder viereinhalb und das Pucky-Rad die einzige Möglichkeit, sich autark in die Welt zu wagen. Das Rad ist näher am Pferd als am Auto, so scheint es, und wem es gestohlen wird, der fühlt sich existentiell beraubt. Kein Wunder, dass der Raddiebstahl Thema in Romanen und Biographien ist; er hat eine Fallhöhe, die kein verschleppter SUV zustande bringt und nicht mal der chronisch bedrohte VW-Bus.

„Ich konnte es nicht glauben“, das ist das, was man leitmotivisch von denen hört, deren Fahrrad gestohlen wurde. Aber warum nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es geschieht, niederschmetternd groß ist? Weil es das ist, was nicht passieren darf, weil das Opfer sich gleichermaßen verletzlich und schützenswert fühlt. Die Radfahrerin, der Radfahrer braucht das Rad, er führt ein Leben, das darauf eingerichtet ist, Büro, Kita, Apotheke und Kneipe damit erreichen zu können. So wie ihr Körper Teil des Rades wird, wird das Radfahren Teil ihres Alltags. Ohne Rad steht alles still. Sie könnten den Bus nehmen, ein Leihrad, aber der Bus braucht zu lange und das Leihrad hat keinen Kindersitz.

Die narzisstische Kränkung

Die Radfahrerin ohne Rad ist wie ein Cowboy ohne Pferd, das erklärt ihren Zorn, aber es erklärt noch nicht die Empörung und den Unglauben. So fassungslos kann nur sein, wem ein Unrecht geschieht, das grundsätzlich falsch ist, weil es dem Falschen widerfährt. Die Rad­fah­re­r:in­nen fühlen sich ohnehin bereits als Opfer, sie sind das schwächste Glied in einem Verkehrsgeschehen, dem sie sich jeden Tag aufs Neue aussetzen. Sie übersehen dabei, dass die Fuß­gän­ge­r:in­nen noch schwächer sind, aber irgendwo in ihrem Hinterkopf wissen sie es doch und deshalb mischt sich noch eine narzisstische Kränkung in den Schmerz: Der Radklau degradiert sie zu Fußgänger:innen.

Das radelnde Kind kann nicht fassen, dass man ihm den Weg in die Welt nimmt, der radelnde Erwachsene kann nicht fassen, dass man sein verletzliches Bemühen um klimafreundliche Mobilität nicht würdigt. In einer besseren Welt würden nur Autos gestohlen, aber wir, deren Welt schon einen Riss hat, werden sie wohl nicht mehr erleben.

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Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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