Der Hausbesuch: Sich mutig in die Sätze stürzen
Josefine Klingner stottert. Lange hat sie nach Vorbildern gesucht, die ihr zeigen, dass sie alles werden kann. Nun ist sie dieser Mensch für andere.
Sie stottert und sie stolpert mitunter im Leben. Dann fängt Josefine Klingner sich und sieht: Wer stolpert, kann auch aufstehen.
Draußen: Leipzig, Tramhaltestelle Waldplatz. Josefine Klingner steht an eine Hauswand gelehnt, man erkennt sie an ihren Waden. Zum einen sind sie übersät mit vielen kleinen Tattoos, zum anderen sind sie nackt. Hat es über 10 Grad, trägt Josefine Klingner kurze Hosen. Dieser Samstag überschreitet die Marke nur knapp: Laut App sind es 11 Grad, gefühlt weniger. Ein anstehender Lockdown liegt in der Luft.
Drinnen: Breite Straßen, breite Gehwege, breite Hauseingänge. Die 37-Jährige wohnt im zweiten Stock eines beige gestrichenen Altbaus. Der Flur gehört ihren Gravel Bikes – den Tourenrädern –, an der Tür zum Badezimmer klebt ein schwarzes Rennrad-Wandtattoo.
Bergauf: Klingner kann eher Rad fahren als ihr Bruder, obwohl der ein Jahr älter ist. Als Teenager fährt sie auf dem Rollentrainer vorm Fernseher die Etappen der Tour de France mit. „Es geht ums sich selber Spüren, ums Freisein, ums sich Auskotzen und manchmal auch ums Blutschmecken, aber so weit geh ich höchstens einmal im Jahr.“ Klingner fährt regelmäßig am Wochenende Dutzende Kilometer im Leipziger Umland, meistens entlang dieser Seen, die früher einmal Tagebaue waren. Am liebsten bergauf, wo das Herz laut pocht, nicht so gerne bergab, wo man nicht treten, aber höllisch aufpassen muss. „Lieber schmerzende Oberschenkel als Wind im Gesicht.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Komfortzone: Vom Sich-rollen-Lassen, vom Weg des geringsten Widerstands hält sie nicht so viel. Lange genug ist sie ihn gegangen. Josefine Klingner stottert, seit sie zwei Jahre alt ist. Auslöser ist meist ein Zusammenspiel aus genetischen, neurologischen und psychologischen Gründen. Die längste Zeit ihres Lebens war ihr Special Feature, wie sie es heute nennt, Entscheidungsgrundlage für alles. Geh ich in diesen Laden? Wechsel ich noch schnell die Straßenseite, bevor mich jemand ansprechen könnte? Mache ich das Abi? Bewerbe ich mich auf diesen Job oder muss ich da zu viel sprechen? Nach der mittleren Reife empfiehlt ihr ein Berufsberater beim Arbeitsamt, „irgendwo hinten“ in einem Büro zu arbeiten, wo man nicht so viel den Mund aufmachen müsse. Klingner folgt diesem Ratschlag, obwohl „der absolut gar nicht meiner Persönlichkeit entspricht“. Aber sie gesteht sich nicht zu, überhaupt so weit in sich hineinzuhorchen. Ihr Stottern gibt die Richtung vor und sie folgt.
Normal: Dabei war das mal anders. Mit fünf Jahren kommt das Dorfkind Josefine auf ein sogenannte Sprachheilinternat mitten in Leipzig. „Da waren nur Kinder, die irgendeine Sprachbesonderheit hatten, das hat uns vereint. Niemand stach raus.“ Sie ist nicht mehr so frustriert, wenn ihr der erste Buchstabe oder die erste Silbe eines Wortes im Hals stecken bleiben, das ist ja bei allen so. So sehr es sie prägt, dort als völlig normal zu gelten, so sehr leidet sie unter der Trennung von ihrer Familie. Fünf Jahre lang sieht Josefine Klingner ihre Mutter und ihre Brüder nur an den Wochenenden, „das hat was gemacht mit unserer Beziehung“, sagt sie. Sie spüre das noch heute. Damals boxte ihr jeden Sonntagabend das Synthesizer-Intro von Spiegel TV direkt in die Magengegend. Die Melodie bedeutete: Die kurze Zeit mit meiner Mutter ist schon wieder vorbei.
Therapie: Im Internat lernt sie, mit Bedacht zu sprechen. Die einzelnen Worte in Gedanken einmal abzutasten, bevor sie sie ausspricht. „Dabei wollen Kinder ja eigentlich nichts anderes, als einfach losquasseln“, sagt Josefine Klingner. Heute weiß sie, dass auch dieser Therapieansatz überhaupt nicht ihrer Persönlichkeit entsprach. „Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich mutig in die Sätze stürzen muss. Ohne groß nachzudenken.“
Bruch: Mit zehn Jahren wechselt Josefine Klingner auf eine reguläre weiterführende Schule. Sie trifft dort auf Mitschüler:innen, mit denen sie schon zusammen im Kindergarten war, und die erinnerten sich: Mit der Josi war irgendwas, die ist damals einfach verschwunden. Plötzlich ist sie „die andere“. „Die einen hat mein Stottern überhaupt nicht interessiert, die anderen haben sich einen Spaß draus gemacht, haben mich nachgeäfft und gehänselt.“ Als zehnjähriges Kind in einem sozialen Gefüge seinen Platz zu finden, ist schon schwierig genug. Noch viel schwieriger wird es, wenn alle anderen schon eine Rolle für einen vorgesehen haben. Josefine Klingner wehrt sich über die Jahre dagegen, wird irgendwann die Freche, Forsche, Vorlaute, am Ende ist sie Klassensprecherin. Trotzdem gibt es Abende, an denen sie sich mit nassen Haaren ans Fenster stellt und auf eine Erkältung am nächsten Morgen hofft.
Scham: Diese Jahre zwischen 10 und 16 sind die Zeit, in der die Scham in ihr Leben tritt. Sie erkennt sie in den Gesichtern mancher Menschen, wenn sie ins Stottern gerät. „Wenn Menschen dir das so spiegeln, glaubst du, du müsstest das selbst auch empfinden“, sagt Josefine Klingner. Die Angst vorm Stottern sei ihr von anderen immer wieder angeboten worden, irgendwann habe sie danach gegriffen.
Neue Version: Nach der Schule gibt ihr Stottern an, wo’s langgeht. Josefine Klingner beginnt die Lehre, die der Berufsberater ihr nahelegt. Sie ist sich dieser Fremdbestimmtheit immer bewusst. Es dauert aber noch Jahre, bis sie sich erlaubt, sich auszumalen, was alles möglich wäre, würde sie aus ihr ausbrechen. Eines Nachmittags auf dem Heimweg von der Arbeit steigt sie vom Rad, legt sich auf eine Wiese in die Sonne und lässt all diese Gedanken zu. Kurz darauf kündigt sie und holt ihr Abitur nach.
Vollbremsung: Leistungskurse Englisch und Geschichte, Supernoten, Riesenspaß. Klingner genießt ihre Abizeit und findet sich mit ihrem Zeugnis in der Tasche im Büro eines Studienberaters der Uni Leipzig wieder. Sie will das werden, was sie sich als Schülerin so sehr gewünscht hätte: Eine stotternde Lehrerin, die ihrer Klasse zeigt, dass man auch mit Sprachstörung Autoritätsperson sein kann. Der Studienberater erzählt Josefine Klingner von einem phoniatrischen Gutachten, das alle angehenden Lehrer in Sachsen zu absolvieren hätten. Sie hört nur „Stimme“, „Aussprache“, „Logopädie“ und wirft ihre Pläne ohne zu zögern über den Haufen. „Es sind diese Herausforderungen, bei denen ich nur einen Versuch habe“, sagt Josefine Klingner. „Wo ich nur einmal die Chance kriege, abzuliefern.“ Damals erschien ihr das unüberwindbar.
Vorbilder: Sie studiert trotzdem Geschichte, nur nicht auf Lehramt. Nach ihrem Abschluss entscheiden ihre damalige Partnerin und sie, eine Familie zu gründen. Klingners Freundin wird schwanger, sie bekommen Theo. Josefine Klingner braucht ein festes Einkommen und entscheidet sich für einen Job – ausgerechnet im Callcenter. Sie arbeitet dort im Kundenservice eines großen amerikanischen Finanzdienstleisters. Sie weiß, dass sie auf ihrer Position unter ihren Möglichkeiten bleibt. Doch es musste erst Stefan zur Tür reinkommen, damit sie sich endlich traut, nach mehr zu greifen. „Ich hab’s sofort gemerkt, als er den ersten Satz sprach, obwohl er es wirklich gut kaschiert hat“, sagt Josefine Klingner. Stefan ist Kommunikationstrainer ihrer Firma – und er stottert. Es ist der Anstoß, den sie braucht. Als eine weitere Trainerstelle ausgeschrieben wird, bewirbt sie sich. Und kriegt den Job.
Was sie will: Fünf Jahre lang hält sie Seminare zum souveränen Auftreten, dann beschließt sie, dass es Zeit ist für was Neues. Klingner schreibt ein Buch, in dem sie ihre Geschichte erzählt für die Hunderttausenden anderen Mädchen und Frauen in Deutschland, die stottern. Man weiß von Joe Biden, Bruce Willis, selbst Moses soll gestottert haben. „Ich habe manchmal das Gefühl, stotternde Frauen sind unsichtbar.“ Mit „Jetzt spuck’s endlich aus“ hat sie ein Buch geschrieben, das sie früher selbst gerne gelesen hätte. Mittlerweile ist Klingner frisch ausgebildete Personal Coach und baut mit ihrer neuen Partnerin einen Hof in Sachsen-Anhalt um. Seit ein paar Tagen hängt dort ihr Praxisschild am Briefkasten. Ihren inzwischen acht Jahre alten Sohn hat sie letztens mal gefragt, ob er finde, dass sie merkwürdig spreche und ob sie ihm erklären solle, woran das liegt. „Er hatte keine Ahnung, was ich meine.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren