Der Hausbesuch: Ihre Ziele vor Augen

Das Ehepaar Kopotev hat seine russische Heimat verlassen, um andernorts das Glück zu suchen. Sie sind am Bodensee gelandet, mit neuen Zukunftsplänen.

Junges Paar sitzt auf einem Bett, auf dem zwei kleine Kinder hüpfen

Ob die Kinder auf dem Bett hüpfen dürfen ist bei den Kopotevs ein Streitthema Foto: Patrick Pfeiffer

Wer in einem fremden Land ankommen möchte, brauche viel Disziplin, meint Dmitry Kopotev. Seine Frau meint, es könne auch undisziplinierter was werden.

Draußen: Schmale Gassen kreuzen sich in der Konstanzer Altstadt – Inselgasse, Rheingasse, Tulengasse, Klostergasse. Man läuft nicht mehr als fünf Minuten durch das kleine Labyrinth, und schon steht man auf der Alten Rheinbrücke, unter der der Fluss aus dem Bodensee weiter fließt. Die Wohnhäuser im Gassengewirr sind so dicht nebeneinander, dass der eine weiß, wann der andere duscht und welches Lied er dabei singt.

Drinnen: Die Wohnung wirkt nur groß, weil Bad, Küche und die drei Zimmer um den Korridor in der Mitte herum liegen und alle Türen offen stehen. Es kommt wenig Licht durch die kleinen Fenster im ersten Obergeschoss; die dicke Holzbalkendecke im Wohnzimmer macht die Wohnung noch dunkler. Und es ist laut, weil die beiden Kinder Krach machen und auf dem Bett der Eltern herumspringen. Sie werden erst still, nachdem sie ihr Tablet bekommen.

Kindererziehung: Anna Kopoteva (32) und Dmitry Kopotev (33) streiten sich oft, wenn es um die Erziehung der Kinder geht. Sie wollen es „richtig“ machen. Er ist streng, sie locker. Er bestraft die Kinder, sie nicht. „Wir leben doch nicht im Gefängnis“, sagt Anna. „Wenn die Kinder sich schlecht benehmen und auf meine Forderungen nicht reagieren, müssen sie bestraft werden“, wendet Dmitry ein. Dann bekommen die Kinder kein Tablet.

Das Familienoberhaupt: „Die Kinder wollen nicht mit Papa allein zu Hause bleiben“, erzählt Anna, weil sie bei ihr auf dem Bett hüpfen dürfen. „Ich bin lärmempfindlich. Ich kann das nicht aushalten“, sagt er. Kinder müssten lernen, wo Grenzen verlaufen. Aber verstehen Kinder diese Zusammenhänge? Und ist Bestrafung ein nachhaltiges Mittel? An solchen Fragen verzweifelt Dimitry selbst. „Trotzdem. Auch ich habe meine Grenzen“, sagt er.

Die Zukunft visualisieren: Und trotzdem will Dmitry mehr Kinder. Auf einer Wandtafel hängt das Foto einer Familie im Sonnenuntergang. Zwei Kinder sind in den Armen der Eltern, und zwei weitere stehen daneben. „Wir wollen eine große Familie werden“, sagt das Paar. Das Bild erinnere sie daran.

Alte Häuser, die eng beieinander stehen

Die Häuser stehen so eng, dass man weiß, was der Nachbar unter der Dusche singt Foto: Patrick Pfeiffer

Inspiration: In diesem Haus ist alles geplant. Die großen Ziele und Wünsche sind visualisiert. Auf der Wandtafel hängen auch Bilder von Dingen, die sie besitzen wollen – einen Tesla, zwei Motorräder, eine Yacht, ein Segelboot. Einige Fotos verraten, dass ihre Traumreise durch die Nordwest-Passage gehen soll. Und, klappt das mit den Plänen? Es gehe um Inspiration, meint das Paar. „Im Alltag kann man schnell vergessen, was der Sinn des Lebens ist und was man in seinem Leben erreichen will“, sagt Dmitry. „Mir ist es wichtig, das Größere im Blick zu behalten. Dafür stehen diese Bilder.“

Das nächste Haus: Die Bilder der Ziele, die sie erreicht haben, entfernen sie von der Wand. Wie das von der eigenen Wohnung. Denn bald zieht die Familie nach Radolfzell am Bodensee um. Sie haben dort eine 5-Zimmer-Neubauwohnung gekauft. Das neue Leben in der neuen Wohnung hat noch nicht einmal begonnen, da hängen sie schon das Bild eines großen Öko-Hauses mit Garten auf.

Fragen: Wie wird man reich? „Reich zu werden allein ist kein Ziel und deswegen bringt es nichts, daran zu denken. Geld ist nur eine Ressource, um eigene Ziele zu realisieren“, sagt Dmitry. „Man muss seine Ziele detailliert aufschreiben und präzise definieren“, erklärt er. Deswegen hat er auf einer anderen Wandtafel geschrieben: 1.800 Euro Rente. „Ich habe diese Summe schon erreicht, wenn ich meinen Job so weiter mache“, sagt er. Doch er hat noch andere, noch höhere Ziele.

Auswandern: Sie beide waren Mitte zwanzig, als sie ihre russische Heimat verlassen haben. Erst zogen sie nach Finnland. „Wir dachten, Moskau ist nah und wir können jederzeit unsere Familien besuchen“, sagt Anna. Dann zogen sie in die Niederlande, wo Dmitry einen besseren Job bekam. Seit 2014 wohnt die Familie nun am Bodensee.

Kosmos: Dmitry ist Mikroelektronik-Ingenieur bei „Hyperstone“, einem High-Tech-Unternehmen in Konstanz. Der Kosmos ist seine Welt. Und Phobos, einer der beiden Monde des Planeten Mars, ist seine Inspiration. Das Bild hängt ebenfalls an der Wand. Daneben ein weiteres, worauf zwei Ingenieure in weißen Kitteln einen Satelliten montieren. Die Bilder erinnern ihn an ein weiteres Ziel: bei „Airbus“ einen Job bekommen.

Deutsche Bahn: Anna Kopoteva hat Touristik studiert. Sie sitzt hinter dem Schalter am Bahnhof und verkauft Tickets. Sie wolle nicht ihr ganzes Leben bei der Deutschen Bahn arbeiten. „Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die lange am Bahnschalter gearbeitet haben, haben Burnout bekommen“, sagt Anna. „Ich muss da bald raus.“ Man brauche starke Nerven mit den Kunden. Es seien fast immer die älteren Leute, die nicht so gerne digital unterwegs seien, und die kämen oft zu ihr. Sie arbeitet in Teilzeit, wegen der Kinder. Und sie ärgert sich: „Wenn die Kitas um 16 Uhr zumachen, wie sollen beide Eltern da 40 Stunden pro Woche arbeiten gehen?“

Buchweizen: Sie sei allerdings gerne mit den Kindern zu Hause und lese ihnen dann russische Bücher vor. Sonst gibt es in ihrer Wohnung nicht viel, was an Russland erinnert. Auch keinen Wodka. Aber gerösteten Buchweizen. Ihr Mann bestelle immer wieder mal zehn Kilo im Internet. „Und alles isst er allein“, sagt Anna und lacht. Die anderen Familienmitglieder essen das traditionelle russische Körnergericht nicht so gerne.

Der russische Pass: Sie hätten sich viel Mühe gegeben, sich zu integrieren. Sie wollten nicht nur in russischen Kreisen bleiben, sagt das Paar. Doch ihre russischen Pässe wollen sie nicht abgeben. Anna hat neben der russischen auch eine estnische Staatsangehörigkeit. Bei ihr stellt sich die Frage nicht, ob sie ihren russischen Pass abgibt; Estland ist in der EU. Aber ihr Mann muss diese Entscheidung in den nächsten Jahren treffen. „Ich fühle mich, als ob ich auf zwei Stühlen sitze. Ich bin nirgendwo zu Hause, nicht in Russland und nicht hier“, sagt er. Es sei für ihn emotionell wichtig, Russe zu sein.

Sich abgrenzen: „Prioritäten setzen“, sagt Dmitry. Mit diesem Motto hat er mit seiner Frau damals das Land für eine bessere Zukunft verlassen. Ihm sei klar gewesen, dass die Kontakte zu Verwandten und Freunden verloren gehen würden. „Ich habe dafür keine Zeit. Ich kann nicht alles in meinem Leben haben.“ Deshalb hat er sich auch von den sozialen Medien abgemeldet. Seine Frau ebenfalls. „Das kostet zu viel Zeit“, sagt sie. Und auf noch mehr verzichten sie: auf Kaffee, Alkohol, Getränke mit Eis und Gespräche über Politik und Religion. Warum? Weil all das negative Auswirkungen auf sie habe. Inzwischen ernähren sie sich zudem nur noch vegetarisch und mit biologisch angebauten Nahrungsmitteln.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Richtige Fragen stellen: Menschen würden in ihrem Leben viel zu viel Zeit verschwenden. Oft wollten sie Karriere machen, doch ohne Plan. Sie fragten sich nicht häufig genug, wohin sie wollten. Das koste viel Energie, findet das Paar. Sie schlagen vor, ganz konkret die wichtigen Fragen zu stellen – für jetzt und für die Zukunft. „Man muss sich heute überlegen, welche Frage man sich am Sterbebett stellt“, sagt Dmitry. „Wahrscheinlich denkt keiner in dem Moment an die Karriere, sondern fragt sich, wo ist meine Familie? Den Sterbenden ist es wichtiger, dass ihre Kinder und Enkelkinder dabei sind, dass sie nicht allein sind.“

Ein Roboter: Ist es nicht zu stressig, so ein Leben zu führen, führt das nicht zu Konflikten? „Ich habe zu Dmitry gesagt: Wie ein Roboter kann man das Leben nicht gestalten“, sagt Anna. „Es war am Anfang schwierig für mich, jetzt ist er ein bisschen flexibler geworden, nachdem er einmal zusammengebrochen ist“, erzählt sie.

Liebe: „Unsere Beziehung müssen wir pflegen“, sagen die beiden. Und das hieße auch, gegen roboterhafte Regeln zu kämpfen. „Weil Liebe mehr Spontaneität braucht“, sagt Anna. Sie verlangt nicht so viel von ihrem Mann, nur dass er sich Zeit für sie zu zweit nimmt – ohne Kinder, ohne Freunde und ohne die Regeln an der Wandtafel. „Wir gehen in letzter Zeit gern ins Kino oder was Schönes essen“, erzählt sie. Auch Dmitry gibt zu, er fühle sich besser, wenn er einfach mal so im Wald spazieren geht. Ohne Ziel.

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