Der Brexit-Stopper Oliver Letwin: Schrullig, aber effektiv
Der Konservative Oliver Letwin sorgte für die Vertagung des Brexit-Deals. Der Hinterbänkler fiel schon häufiger mit skurrilen Ideen auf.
Er ist der Stachel im Fleisch von Boris Johnson wie schon von Theresa May: der Parlamentsabgeordnete Oliver Letwin, Urheber des „Letwin Amendment“, das am Samstag auf der Sondersitzung des britischen Unterhauses zum neuen Brexit-Deal dafür sorgte, dass das Unterhaus seine Entscheidung vertagte.
Es ist nicht die erste schrullige, aber effektive Idee, mit der der Hinterbänkler, seit 22 Jahren konservativer Vertreter des ländlichen Wahlkreises West Dorset, seine Kollegen in die Verzweiflung treibt. Unter May errang er einmal die Kontrolle über die Tagesordnung des Parlaments und ließ die Abgeordneten über Alternativen zu Mays Brexit-Plänen abstimmen – sie fielen alle durch.
Ähnlich wie sein Bruder im Geiste John Bercow, der als Parlamentssprecher seine Eskapaden in die Tat umsetzt, begann Letwin seine Karriere am rechten Rand der britischen Politik. Der 1956 geborene Absolvent des Eliteinternats Eton, als Student in Cambridge noch Klubmitglied der Liberalen, stieß in den Glanzzeiten Margaret Thatchers Mitte der 1980er Jahre als Vordenker in die gefürchtete „Policy Unit“ der Premierministerin vor und sorgte für Kontroversen.
Unruhen in afrokaribischen Gettosiedlungen in London 1985 führte er in einer Vorlage auf „schlechte Moraleinstellungen“ der Schwarzen zurück: „Arbeitslose Weiße aus den Unterklassen leben seit Jahren ohne einen vergleichbaren Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung“, schrieb Letwin und nannte Starthilfen für schwarze Unternehmer zwecklos, da sie bloß in Discos und Drogen fließen würden. Der damals 29-Jährige fand kein Gehör.
Kopfsteuer als katastrophales Experiment
Ein paar Jahre später war Letwin einflussreicher. Thatcher setzte seine Idee um, die „Poll Tax“ – eine für jeden Steuerzahler gleich hohe „Kopfsteuer“ als Grundlage der kommunalen Finanzen – in Schottland zu testen. Die Thatcher-Regierung überlebte dieses katastrophale Experiment nicht.
Erst 1997 tauchte Letwin mit seinem Einzug ins Parlament aus der Versenkung auf. Er galt als einer der Architekten der Modernisierung der Konservativen unter David Cameron vor dessen Wahlsieg 2010 und blieb bis 2017 Kabinettsmitglied, aber immer wieder störte er seine Karriere selbst mit trotteligen Skandalen.
Eines Nachts öffnete er einem Dieb die Haustür, der bei ihm klingelte, die Toilette benutzte und dann mit Letwins Geldbörse wieder hinausspazierte. Ein anderes Mal entsorgte er einen Haufen vertraulicher Dokumente in einem Mülleimer im Park.
Zucker zum gebratenen Speck
Ein Journalist schrieb, er habe im Café beobachtet, wie Letwin ein gebratenes englisches Frühstück bestellte und es gedankenverloren mit Zucker bestreute: „Der Geschmack schien ihn zu überraschen.“
Genial und weltfremd – dieses Image überschattet auch Letwins neueste Inkarnation als Anti-Brexit-Tüftler. Regelmäßig fragen sich Beobachter, ob er sich selbst ausdenkt, was er da so macht.
Am Sonntag versprach er, keine Anträge mehr im Parlament zu stellen. Johnsons Brexit-Plan ist abgebremst, Letwins Schuldigkeit ist getan. Bei der nächsten Wahl, hat er versprochen, wird er gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!