Der Berliner Wochenkommentar II: Es geht immer noch schlimmer
Die SPD bleibt in Umfragen auf Talfahrt und es sieht nicht so aus, als ob mit den 17 Prozent der Tiefststand erreicht ist. Das erhöht den Druck auf Parteichef Müller.
Märchenhafte 44 Prozent Unterstützung für die SPD kann man in den Umfragen aus zwei Jahrzehnten finden, die die lesenswerte Internetseite wahlrecht.de zusammengetragen hat. Allerdings war das Anfang 1999. Doch auch noch Ende 2015 ist da von heute schier unglaublichen 30 Prozent für die Sozialdemokraten zu lesen. Unglaublich deshalb, weil die SPD in der jüngsten Umfrage vom Dienstag nur noch auf wenig mehr als halb so viel gekommen ist. 17 Prozent – weniger gab es für die Partei noch nie.
Schon das Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl vor knapp zwei Jahren hatte die Genossen geschockt. 21,6 Prozent reichten zwar noch, um stärkste Fraktion im Parlament zu werden, waren aber dennoch historischer Tiefststand bei Wahlen. 20 Prozent aber schien endgültig die Marke zu sein, die nicht unterschritten werden dürfte. Jetzt aber ist das längst geschehen. Mit 17 Prozent liegt die SPD nun nur noch vier Prozentpunkte vor der AfD.
Politiker verweisen gern darauf, dass das ja alles nur Momentaufnahmen seien. Und tatsächlich kam die SPD, nur einen Monat nachdem sie 2004 in einer Umfrage auch schon mal so schlecht wie heute dastand, schon wieder auf 22 Prozent. Schlimmer geht’s also nimmer? Doch. Denn es gibt keinen Punkt in der Zukunft, ab dem es für die SPD sicher wieder besser wird. So, wie eine ausgezehrte Polarexpedition nur bis zu einem nahen rettenden Verpflegungsdepot durchhalten muss, um danach wieder fit zu sein.
Die Frage nach dem Warum haben diverse echte und selbst ernannte Experten schon beantwortet. Im Kern waren sich viele einig, dass die SPD nicht als nah genug dran an den Alltagsthemen wie Wohnen, öffentlicher Nahverkehr und Sicherheit wahrgenommen wird. Das hat schon etwas Tragisches, denn gerade Parteichef Michael Müller – der Glamourfreie – ist einer, der für den Normaloblick steht. Sein Problem ist, dass nicht zählt, was er für die SPD innerhalb der rot-rot-grünen Koalition fordert, vor allem beim Wohnungsbau, sondern das, was der Senat schließlich zustande bringt.
Passiert da zu wenig, bleibt das zwangsläufig an der formal stärksten Kraft einer Koalition hängen und am Regierungschef, dem viele dann mangelnde Durchsetzungskraft vorwerfen. Doch womit soll Müller seine Bündnispartner Linkspartei und Grüne unter Druck setzen können? Platzt die Koalition, hat die jetzt bei 22 Prozent liegende Linkspartei bei Neuwahlen beste Chancen, mit Klaus Lederer erstmals den Regierenden Bürgermeister zu stellen. Es dürfte für die SPD also erst mal weitergehen wie bisher – nämlich schlimmer.
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