Der 1. Mai international: Kampf für gute Arbeit – weltweit
Arbeitnehmerrechte sind unter Druck. Zum 1. Mai wirft die taz einen Blick in die Türkei, nach Polen, Italien, Frankreich, Argentinien und China.
Diesmal geht es auch um İmamoğlu
Der 1. Mai ist in der Türkei nicht nur der Kampftag der Gewerkschaften, sondern der Opposition insgesamt. Um ihm die politische Brisanz zu nehmen, machte der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Tag 2009 zum gesetzlichen Feiertag. Er sollte damit zu einem Familien – und Frühlingsfest umfunktioniert werden. Doch das schlug fehl.
Spätestens seit dem ersten landesweiten Aufstand gegen Erdoğan 2013 ist der 1. Mai wieder zu einem Tag politischer Hochspannung geworden. Nach dem sogenannten Gezi-Aufstand hatte Erdoğan damals alle Demos rund um den zentralen Istanbuler Taksimplatz verboten, dem traditionellen Aufmarschplatz der türkischen Gewerkschaftsbewegung am 1. Mai. Und so spielen sich seit 2013 jedes Jahr die selben Szenen ab: Während die Gewerkschaften ihre Anhänger sammeln, um Richtung Taksimplatz zu marschieren, riegelt die Regierung den Platz schon am Vorabend weiträumig ab.
Für die linken Gewerkschaften ist der Taksimplatz aber noch mehr. Er ist der Ort des größten Massakers in der modernen Türkei, an das sie mit ihren Aufmärschen erinnern wollen. Am 1. Mai 1977 wurde die dort stattfindende Kundgebung von Rechtsradikalen, mutmaßlich Grauen Wölfen, angegriffen. Die Killer schossen von den Dächern der umliegenden Häuser, die Massenpanik tat ihr Übriges. 34 Demonstranten wurden getötet.
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Dieses Massaker an den Gewerkschaftern wird im Nachhinein auch als Auftakt zu einem immer schwerwiegenderen bewaffneten Konflikt zwischen rechten und linken Gruppen gesehen, der schließlich im Militärputsch von 1980 endete. Nach dem Putsch wurden alle Gewerkschaften zerschlagen, die Funktionäre der linken Gewerkschaftsföderation DISK für Jahre ins Gefängnis gesteckt. Erst in den 1990er-Jahren wurde Gewerkschaftsarbeit wieder möglich, ist aber bis heute erschwert. Streiks sind legal so gut wie unmöglich, Kündigungen von aktiven Gewerkschaftern fast die Regel. Vor allem gegen diese Unterdrückung der Gewerkschaften wird am 1. Mai demonstriert.
Der 1. Mai in diesem Jahr wird allerdings anders. Die linke Gewerkschaftsföderation DISK hat entschieden, ihre Demonstration nach Kadiköy, dem Zentrum der asiatischen Seite Istanbuls, zu verlegen. Man will nicht wieder den rituellen Kampf um den Taksimplatz aufführen, sondern die Oppositionsbewegung zur Freilassung des im März verhafteten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu unterstützen. So wird am 1. Mai die gesamte Opposition gemeinsam für die Freiheit von İmamoğlu und den Hunderten anderen Gefangenen demonstrieren, die während der Aufmärsche seit März festgenommen wurden. Jürgen Gottschlich, Istanbul
Die kämpfenden Frauen von Łódź
Majówka heißen in Polen die drei Mai-Feiertage, auf die sich alle freuen: 1. Mai – Tag der Arbeit, 2. Mai – Tag der Flagge und 3. Mai – Tag der Verfassung von 1791. Mit etwas Geschick und ausgleichbaren Überstunden kann man also eine ganze Woche zusätzlichen Urlaub abgreifen.
Dabei steht der Tag der Arbeit, der zu realsozialistischer Zeit ein staatlicher Feiertag mit Pflichtteilnahme an Propagandaveranstaltungen der Partei war, bei den Polen eigentlich gar nicht hoch im Kurs. Aber als erster Tag der Majówka ist er für viele der Auftakt für ein erstes Grillfest im Grünen und einen Kurztrip an die Ostsee, in die Tatra oder ins Ausland.
Einige Tausend ArbeitnehmerInnen werden aber auch ganz traditionell am 1.-Mai-Marsch in Łódź, der drittgrößten Stadt Polens, teilnehmen. Łódź stieg im 19. Jahrhundert zur Textilmetropole auf. In den riesigen Fabriken arbeiteten vor allem Frauen, denen die filigrane und kräftezehrende Arbeit an den Webstühlen leichter fiel als den meisten Männern. Diese verdingten sich zumeist auf dem Bau, in der Landwirtschaft und versorgten Haushalt und Kinder.
Da die Arbeitsbedingungen in den Fabriken schlecht waren – der ohrenbetäubende Lärm und die vom Wasserdampf ständig feuchte Luft machte den Arbeiterinnen zu schaffen –, begannen sich die Frauen früh in Gewerkschaften zu organisieren. Anders als in Schlesien, wo die Kohlekumpel auf die Barrikaden gingen oder später an der Ostsee, wo die Werftarbeiter für höheren Lohn streikten, gingen die Textilmagnaten in Łódź meist schnell auf die Forderungen der Weberinnen ein. Die Maschinen mussten Tag und Nacht laufen, sonst lohnte sich das Geschäft nicht.
Auch in 1970er- und 80er-Jahren, als die Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung Solidarność im ganzen Land Triumphe feierte, waren es in Łódź die Frauen, die den Arbeitskampf anführten. Der Systemwechsel 1989 von einer sozialistischen Einparteienherrschaft hin zu einer pluralistischen Demokratie mit freier Marktwirtschaft und der gleichzeitige Aufstieg Chinas zum führenden Billiganbieter von Stoffen und Kleidung, löste in Łódź reihenweise Fabrikschließungen und Massenentlassungen aus. Die Textilmetropole Polens war pleite.
Am Tag der Arbeit wird Łódź 2025 wieder im Rampenlicht stehen. Ganz Polen kann dann sehen, dass die Stadt auf dem besten Weg ist, zur führenden Mode-, Film- und Kunstmetropole des Landes aufzusteigen. Durch das breit angelegte Sanierungsprogramm wird aus der einst dreckigen Industriestadt eine moderne Kulturmetropole, die stolz ist auf ihre vielen Jugendstilhäuser, ihre AvantgardekünstlerInnen und ModedesignerInnen. Und auf ihre selbstbewussten Arbeiterinnentraditionen. Gabriele Lesser, Warschau
Friedliche Aussichten – trotz Milei
Mit einer Ankündigung hat die argentinische Regierung den Gewerkschaftsdachverband CGT in ein Dilemma gestürzt. „Donnerstag, 1. Mai: Tag der Arbeit. Freitag, 2. Mai: arbeitsfreier Tag für touristische Zwecke.“ Die Folge dieses Fin de Semana XXL, dieses viertägigen Wochenendes: Am 1. Mai sind viele schon unterwegs Richtung Kurzurlaub statt demonstrierend auf der Straße.
Also soll die traditionelle Veranstaltung zum Tag der Arbeit dieses Jahr am 30. April stattfinden, doch da müssen die meisten arbeiten. Der diesjährige Marsch zum Monument „Canto al Trabajo“ (Ode an die Arbeit) dürfte deshalb im engsten Kreis begangen werden. Nur kleine linke Parteien und Organisationen haben zu einer Veranstaltung direkt am 1. Mai aufgerufen, und auch sie rechnen mit keiner allzu großen Teilnehmerzahl: Die Protestveranstaltung findet in einer überdachten und überschaubaren Sporthalle satt. Und so wird es in den Straßen von Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires am 1. Mai ruhig und leer sein, während sich eine Blechkarawane mit jenen, die es sich leisten können, in Richtung der südlichen Badeorte am Atlantik bewegen wird.
Diese friedlichen Aussichten für den 1. Mai überraschen angesichts der radikalen Sparpolitik der nicht mehr ganz so neuen Regierung des libertären Präsidenten Javier Milei. Die führte bereits zur Streichung von Zehntausenden von Arbeitsplätzen und zum Rückgang der Reallöhne und Renten und damit der Kaufkraft der Einkommen. Doch so wie der Wahlsieg von Javier Milei die gesamte politische Landschaft wie ein Erdbeben erschüttert hat, hat er auch die Gewerkschaften getroffen – auch wenn Milei erst vor wenigen Wochen den dritten Generalstreik während seiner siebzehnmonatigen Amtszeit erleben musste.
Wie die traditionellen Parteien sind auch die Gewerkschaften bei vielen diskreditiert. Einige ihrer Bosse sind seit Jahrzehnten im Amt oder ihre Nachfolge wurde innerfamiliär geregelt. Gleichzeitig gleichen viele Einzelgewerkschaften eher Sozial- und Krankenversicherungsunternehmen, die ihre eigenen Interessen verfolgen, anstatt als kämpferische Organisationen für die Rechte der Arbeitnehmer einzutreten.
Dies war nicht immer der Fall. Im Jahr 1890 wurde der 1. Mai in Buenos Aires zum ersten Mal mit Demonstrationen gefeiert, die hauptsächlich aus dem damaligen sozialistischen Lager kamen. Seit 1925 ist der 1. Mai ein gesetzlicher Feiertag im Land, der laut Gesetzestext „die Pflicht der öffentlichen Hand beinhaltet, ihn zu einem heiteren und glückverheißenden Tag der sozialen Solidarität und des geistigen Friedens zu machen“. Ein Satz, der auch aus der eingangs erwähnten Ankündigung der Regierung von Milei stammen könnte. Jürgen Vogt, Buenos Aires
Stress in der Goldenen Woche
Wer beim Tag der Arbeit im selbsternannten „Arbeiterparadies“ China an Fahnen schwingende Demomärsche denkt, könnte falscher nicht liegen. Wenig fürchtet die Parteiführung mehr als Menschenansammlungen, die politische Forderungen stellen. Doch zumindest eine Gemeinsamkeit gibt es zum deutschen Feiertag: Die chinesischen ArbeiterInnen können am 1. Mai ebenfalls entspannen. Genauer gesagt haben sie dieses Jahr sogar bis zum 5. Mai frei.
Das Kalkül hinter den sogenannten „Goldenen Wochen“, von denen Ende der 90er Jahre drei im Jahr eingeführt wurden, war ein rein ökonomisches. Die Parteiführung wollte damals mit verlängerten Wochenenden den schwachen Binnenkonsum ankurbeln. Das Wohl der ArbeiterInnen stand nur an zweiter Stelle. Der Tag der Arbeit bedeutet für viele ChinesInnen denn auch vor allem eins: Stress. Wenn 1,4 Milliarden Menschen auf einen Schlag Ferien machen, ist der Andrang auf die Zug- und Flugtickets riesiger als das begrenzte Angebot.
Doch der Bevölkerung bleibt wenig anderes über, als mitzudrängeln. Schließlich gibt es kaum Alternativen zum Verreisen. Die meisten Chinesen haben lediglich Anspruch auf fünf bezahlte Ferientage im Jahr. Und selbst die, die öfter freinehmen dürften, tun dies nicht – aus „Respekt“ gegenüber den Vorgesetzten. Der soziale Druck, als Faulenzer dazustehen, ist immens.
Die Arbeitskultur passt längst nicht mehr zu einer Volkswirtschaft, die in vielen Zukunftstechnologien führend ist und neben dem produzierenden Gewerbe auch den Dienstleistungssektor stärken möchte. Insbesondere die urbanen Millennials leiden unter einem kollektiven Burn-out und anlässlich des Tags der Arbeit posaunen sie ihren Unmut oft auf den sozialen Medien hinaus.
Die Staatsführung scheint allmählich einzulenken. Denn sie hat begriffen, dass die kollektive Überarbeitung nicht förderlich ist, um die demografische Alterung der Gesellschaft zu stoppen. Die Geburtenrate hat sich während der letzten zehn Jahren halbiert. Das bedeutet natürlich auch, dass die wirtschaftliche Produktivität schon bald sinken wird.
Dementsprechend sind die Unternehmen angewiesen, ihren Angestellten eine bessere Work-Life-Balance zu bieten. Das führt auch dazu, dass in vielen Büros nach 22 Uhr automatisch die Lichter abgedreht werden – um zu vermeiden, dass sich einige „vorbildliche“ Arbeiter aus falsch verstandener Aufopferung die Nächte um die Ohren schlagen. Fabian Kretschmer, Seoul
Megakonzert statt politischen Drucks
Auch dieses Jahr werden am 1. Mai Zehntausende in Mailand, Turin, Neapel, Palermo, Rom und kleineren Städten Italiens auf die Straße gehen. Sie folgen dem Aufruf der drei großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL. Auf dem Papier stellen die drei Bünde eine Macht dar. Immerhin elf Millionen Menschen gehören ihnen an, neben zahlreichen Rentner*innen sind darunter knapp sieben Millionen Arbeitnehmer*innen – ein für europäische Verhältnisse ordentlicher gewerkschaftlicher Organisationsgrad von gut 30 Prozent.
Das sieht nach gewerkschaftlicher Einheit und Stärke aus. Doch das Bild trügt. Sowohl in der Tarifpolitik als auch im politischen Raum sind die Arbeitnehmerorganisationen seit Jahren in der Defensive. Italien verzeichnet die mieseste Lohnentwicklung aller OECD-Staaten. Während die Reallöhne zwischen 1990 und 2020 überall sonst stiegen, gingen sie in Italien um rund 3 Prozent zurück. Und auch die durch die hohe Inflation ausgelösten Reallohnverluste seit 2022 vermochten die Gewerkschaften nicht auszugleichen. Giorgia Melonis Rechtsregierung will von Dialog nichts wissen.
In der Tarifpolitik setzen die wirtschaftlichen Daten den Arbeitnehmer*innen zusätzlich zu. Italien hat seit gut drei Jahrzehnten innerhalb der EU die schlechteste Entwicklung beim Wachstum des BIP und bei der Produktivität. Darüber hinaus weist es eine kleinteilige, zersplitterte Firmenstruktur auf, in der kleine Klitschen dominieren und die Gewerkschaften meist gar nicht präsent sind.
Im politischen Raum wiederum sind die drei Bünde tief gespalten. Der größte Bund, die linke CGIL, fährt ebenso wie die drittgrößte Organisation, die UIL, einen klaren Antiregierungskurs, während die in katholischer Tradition stehende CISL von Opposition gegen Meloni nichts wissen will. Das zeigt sich beim Ruf nach der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, laut vorgetragen von der CGIL und der UIL, von der CISL dagegen abgelehnt. Ebenso bei der von der CGIL angestrengten Volksabstimmung, die auf die Abschaffung diverser Gesetze zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zielt. Auch wenn alle drei Organisationen am 1. Mai wieder gemeinsam auf die Straße gehen, ist ihr Verhältnis unterkühlt. Politischer Druck lässt sich so nicht aufbauen.
Doch ein Erfolg ist den drei Bünden schon jetzt gewiss: das „Concertone“, ein Megakonzert mit freiem Eintritt, zu dem sie am 1. Mai auf der riesigen Piazza San Giovanni in Rom aufrufen. Dutzende italienische Popstars werden den ganzen Tag über rund 500.000 meist jungen Zuschauer*innen einheizen. Wenigstens dieses von den Gewerkschaften ausgerichtete Großereignis erfreut sich ungebrochener Popularität. Michael Braun, Rom
Getrennt, aber allesamt gegen Macrons Rentenreform
„Vergessen wir nicht, dass der 1. Mai nicht der Tag der Arbeit ist, den Pétain (der Chef der Kollaboration mit den Nazi-Besetzern von 1940 bis 1945) ins Leben gerufen hat, sondern der internationale Tag des Kampf für die Arbeiterrechte und der internationalen Solidarität“, erinnert Fabrice Lerestif, Sekretär der FO-Gewerkschaftsverband in der Bretagne seine Kolleginnen und Kollegen. „In einer Welt, in der die Lüge triumphiert, in der Trump den Friedensnobelpreis verlangt, Putin Lektionen in Sachen Demokratie erteilt und Marine Le Pen sich auf den Kampf von Martin Luther King beruft“, hält er es für notwendig, die wahre Geschichte des 1. Mai zu verteidigen. In seiner Stadt Rennes, einer Hochburg der sozialen Bewegungen in Frankreich, demonstrieren die Gewerkschaften und Linksorganisationen einheitlich.
In Paris dagegen feiern die großen Gewerkschaftsverbände (CGT, FO, CFDT und UNSA) den 1. Mai, wie oft schon in der jüngeren Vergangenheit, getrennt. Was aber nicht bedeutet, dass sie sehr unterschiedliche Forderungen im Kampf für die Rechte der Werktätigen stellen. Ganz im Gegenteil bleiben die Gewerkschaften zumindest in einem Punkt einig und geschlossen in ihrer Mobilisierung zum Widerstand: Die Regierung, und mit ihr Staatspräsident Emmanuel Macron, müsse auf die sehr unpopuläre Rentenreform von 2023 zurückkommen und die pauschale Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters zurücknehmen.
Das heißt indes nicht, dass alle prinzipiell gegen eine Reform wären, die langfristig die Finanzierung des Systems sicherstellen soll. Vor allem die traditionell zu Kompromissen bereite CFDT, die ursprünglich aus der christlich-sozialen Arbeiterbewegung hervorgegangen ist, wäre bereit, mit den Arbeitgebern und der Regierung über die Beitragszahlungen der Sozialpartner oder auch die Bedingungen für den Ruhestand zu diskutieren.
Die klassenkämpferischen Gewerkschaften, allen voran die 130-jährige CGT (Confédération Générale Travail) und die von dieser im Kalten Krieg abgespaltene und ursprünglich „antikommunistische“ Force Ouvrière (FO) machen aus der Rückkehr zum Rentenalter mit 62 und der Ablehnung jeglicher Verschlechterung der Bedingungen für die Altersvorsorge der Arbeiter*innen eine Existenzfrage. Die CFDT ist heute vor der CGT und FO der mitgliederstärkste nationale Bund.
Aufgrund ihrer Geschichte wollen vor allem die auf ihre politische Unabhängigkeit bestehenden Gewerkschaften des viertgrößten Verbands UNSA (Union des syndicats autonomes) eindeutig politische Forderungen oder Proteste wie zum Beispiel gegen die Aufrüstung und „Kriegswirtschaft“ in Abgrenzung zu den übrigen Gewerkschaftstendenzen nicht unterstützen. Im Gegensatz zur UNSA ist der Verband Solidaires (zum Teil entstanden aus dem von der CFDT ausgeschlossenen linken Flügels) politisch sehr links engagiert.
Allen Gewerkschaften gemeinsam ist seit vielen Jahren das Problem des sehr geringen Organisationsgrads. Waren nach dem Krieg rund 30 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied eine Verbands, waren es 1980 nur noch 15 und heute wie seit rund 20 Jahren gerade noch knapp 10 Prozent. Diese schwache Repräsentativität erklärt es auch teilweise, dass in Frankreich nie ein wirklicher sozialer Dialog zustande kam, in dem die Gewerkschaften wirklich das nötige Gewicht hatten. Alles wird so zu einer Frage der auf der Straße und mit Streiks „gemessenen“ Kräfteverhältnisse.
Wirklich stark bei eindrucksvollen Aktionen sind die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, insbesondere bei der Bahn und den städtischen Verkehrsbetrieben sowie im Bildungssektor. Das erlaubt es ihnen, die Regierungspolitik (wie bei der Reform des Arbeitsrechts und des Rentenalters) in wochenlangen Konflikten herauszufordern. Da die Regierung bei den Bildungsausgaben sparen will, ist eines sicher: Die nächste Streikbewegung kommt demnächst. Rudolf Balmer, Paris
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