Deportationen aus Moldau in Gulags: Geschichte, die nicht vergeht
Unter Stalin wurden Zehntausende verschleppt. Eine Ausstellung erinnert an ihr Schicksal. Der russische Botschafter spricht von „Russophobie“.
Historiker Ion Ksenofontow führt durch die ungewöhnlichen Ausstellungsräume. Er ist Teil einer Gruppe von Geschichtsprofessoren und Mitarbeitern des Staatsarchivs, die die Schicksale von Menschen dokumentiert haben, die während der Stalinzeit vom Gebiet der heutigen Republik Moldau in Gulags verschleppt wurden.
„Natürlich ist es hier jetzt sehr heiß, aber verglichen mit dem, was die Deportierten erleiden mussten, ist das Luxus“, sagt er. „Damals waren Dutzende Menschen darin zusammengepfercht – unter furchtbaren Bedingungen.“
Der Zweite Weltkrieg hatte für Moldau katastrophale Folgen. Nach Kriegsende erlebte das sowjetisch besetzte Land eine große Zahl von Deportationen nach Sibirien und Mittelasien. Allein in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1949 verbannte das Regime in Moskau 35.796 Menschen, darunter rund 12.000 Kinder, in Arbeitslager. Sie verließen in Viehwaggons das Land. Es war eine von insgesamt drei Deportationswellen zwischen 1940 und 1951, beginnend kurz nach der Annexion Moldaus durch den Kreml im Juni 1940.
Ion Ksenofontow, Historiker
Moldau gehörte damals zu Rumänien, doch infolge des geheimen Nichtangriffspakts zwischen Stalin und Hitler forderte Moskau unter Kriegsandrohung, das Gebiet abzutreten. 1941 ging Rumänien dann ein Bündnis mit Nazi-Deutschland ein und startete eine Gegenoffensive zur Rückeroberung des Territoriums.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die heutige Republik Moldau in die Sowjetunion eingegliedert und 1991, nach deren Zerfall, unabhängig. Wie auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken unterdrückte das stalinistische Regime den Widerstand, indem es die lokale Elite in Gulags deportierte. Historiker schätzen, dass die Gesamtzahl der Deportierten aus der Region zwischen 80.000 und 120.000 liegt. Viele kehrten nie zurück, starben unterwegs oder in den sowjetischen Arbeitslagern.
In den Ausstellungswaggons sind Geschichten von Familien dargestellt, die nach Sibirien oder in die Mongolei verschleppt wurden. Auf kleinen Tafeln können Besucher die Erinnerungen der Gefangenen nachlesen. In den Strafkolonien und Lagern hätte er gemeinsam mit Tausenden weiteren Menschen bei Temperaturen von 40 Grad unter Null arbeiten müssen, schreibt einer. Für Kranke habe eine einzige Arznei zur Verfügung gestanden.
Die Wissenschaftler um Ion Ksenofontow führen ein Register mit Listen und Dossiers der Deportierten, „damit Menschen nachvollziehen können, wer aus ihrem Wohnort betroffen war“, sagt er. Ksenofontow berichtet von Ausstellungsbesuchern, die ihn gezielt nach deportierten Angehörigen fragten. Ihnen biete man Beratung und Einsicht in die Akten des Staatsarchivs an.
Personen, die direkte Nachkommen der Deportierten sind, haben Zugang zu den Dokumenten und dürfen Kopien machen. „Kürzlich ist jemand auf den Fall seines Großvaters gestoßen, er war sehr berührt“, sagt Ksenofontow.
Über die Ausstellung erbost sind dagegen Vertreter Russlands. Der russische Botschafter in Moldau, Oleg Wasnezow, erklärte, die beiden Waggons vor dem Regierungsgebäude seien Belege für Russophobie und eine bewusste Anstiftung zum „Hass auf Russland und alles Russische“.
Ein schmerzhaftes Kapitel selbst sehen
Mit Eröffnung der Ausstellung habe in der Republik Moldau der „Monat der Russophobie“ begonnen – getarnt als Kampf gegen den Totalitarismus. Bezeichnend sei, dass die Organisatoren mit allen möglichen Installationen, Ausstellungen, Bühnen- und Filmproduktionen die rumänischen „Komplizen von Hitlerdeutschland“ würdigten, schrieb er auf dem Telegram-Kanal der Botschaft. „Sie schweigen über deren Gräueltaten während des Großen Vaterländischen Krieges. Sie verunglimpfen die Soldaten der Roten Armee, die gegen sie gekämpft haben.“
Der russische Botschafter listete auch die Verbrechen der rumänischen Kollaborateure der Nazi-Armee in den Jahren der sogenannten „rumänischen Besatzung“ auf. Die Schrecken des stalinistischen Regimes auf dem Gebiet Moldaus wie Repressionen, Deportationen und die Vernichtung der lokalen Bevölkerung in den Gulags ließ er jedoch unerwähnt. Genauso wie den Hunger, die Kollektivierung, die Beschlagnahme von Eigentum, Russifizierung sowie die Ausbürgerung der örtlichen Bevölkerung.
Moldaus Außenminister Nicola Popescu wies die Anschuldigungen der russischen Behörden zurück, nannte sie völlig inakzeptabel und einen Versuch, die tragischen historischen Ereignisse, die Moldau durchgemacht habe, zu verfälschen. „Wir laden Vertreter der russischen Botschaft ein, die Waggons im Zentrum von Chișinău zu besichtigen und mit Experten zu sprechen, um die historische Wahrheit über die von den Sowjets provozierte Hungersnot herauszufinden“, heißt es in einer Erklärung. Gleichzeitig wurden die russischen Behörden „nachdrücklich“ aufgefordert, von jeglicher Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Republik Moldau abzusehen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Derweil ist der Ansturm auf die Ausstellung groß. Seit Beginn besuchten Tausende Menschen die beiden Waggons – wegen des großen Interesses sollen sie länger als geplant noch bis Ende des Monats geöffnet bleiben.
Die 40-jährige Maria Ursu ist mit ihren beiden Kindern da. Sie wolle mit eigenen Augen dieses schmerzhafte Kapitel der Geschichte ihres Volkes sehen, sagt sie. Als sie Schülerin war, noch zu Sowjetzeiten, sei darüber geschwiegen worden. „Ich konnte damals nichts von der Realität wissen. Deshalb bin ich froh, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, durch die Worte derer, die damals gelitten haben, etwas über die wahre Geschichte der Deportationen zu erfahren“, sagt sie. Es sei wichtig, die eigene Geschichte zu kennen. „Damit sie sich nicht wiederholt.“ Für die Bürger Moldaus sei es wichtig, zu sehen, „welche Prüfungen unser Volk durchgemacht hat und sich klarzumachen, dass sie einen Großteil ihres Lebens in die Irre geführt worden sind“.
Das Regime habe durch die Deportationen die intellektuelle Elite des Landes vernichten und den „Erinnerungsfaden zerreißen“ wollen, sagt Ion Ksenofontow. Er glaubt, die russischen Behörden machten über die Ausstellung deshalb so einen Aufstand, weil der Kreml „wahrscheinlich eine Neuauflage der UdSSR anstrebt und die Deportationen ein dunkler Fleck in der Geschichte ist, der heute Empörung hervorruft.“
Die Ausstellung richte sich keinesfalls gegen das russische Volk. Unter dem stalinistischen Regime hätten selbstverständlich auch die Russen gelitten. „Die Ausstellung befindet sich im Herzen der Republik Moldau und die Botschaft an die Bürger Moldaus ist klar: Vergessen wir unsere Geschichte nicht, denn sonst kann sie sich gegen uns wenden.“
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind