Denkmal für Hachschara-Landgut: Itzak Baumwol erinnert sich
Jutta Bamwol wollte – wie Tausende jüdische Jugendliche auch – in den 30er Jahren nach Palästina auswandern. Doch sie wurde in Auschwitz ermordet.
Mit 15 Jahren hatte Jutta Baumwol große Träume. Sie war ein jüdisches Mädchen, 1925 geboren, spielte Theater, musizierte, interessierte sich für Literatur. Ihre Familie, neben Jutta noch zwei ältere Schwestern und ein kleiner Bruder, lebte damals in Danzig. Ihr Bruder, Itzhak Baumwol, erinnert sich sehr gut an diese Zeit: „Sie war nur fünf Jahre älter als ich“, sagt er. „Sie brachte mich zur Schule, zum Kindergarten und holte mich ab, sie spielte mit mir. Jutta war nicht nur meine Schwester. Sie war meine Freundin, mein Kindermädchen.“ Als jüdische Kinder Ende der 1930er Jahre von den Schulen ausgeschlossen wurden, unterrichtete sie ihren Bruder zu Hause.
Doch Jutta blieb nicht in Danzig. In einer immer bedrohlicher werdenden Situation löste sie sich aus ihrer Familie, ließ das Stadtleben hinter sich, und ging nach Schniebinchen, einem Dorf im heutigen Westpolen, auf das dortige Hachschara-Landgut. Auf diesen Landgütern bereiteten sich ab den 1930er Jahren immer mehr jüdische Jugendliche darauf vor, nach Palästina auszuwandern. Sie lernten, Gemüse und Obst anzubauen, übten sich im Handwerk und lernten Hebräisch, jüdische Geschichte und die Geografie Palästinas.
Jutta gewöhnte sich wohl schnell an ihr neues Leben und fand Freunde dort, erzählt ihr Bruder. Und sie wusste, was sie wollte. Denn während die Familie sich 1940 auf eine unsichere Flucht begibt, bleibt Jutta auf dem Hachschara-Landgut – in der Hoffnung, von dort aus Palästina zu erreichen. „Meine Eltern erlaubten es ihr. Es erschien viel wahrscheinlicher, dass sie über die Hachschara-Bewegung schließlich Palästina erreichen könnte, denn wir wussten ja gar nicht, was mit uns werden würde“, sagt ihr Bruder. Jutta kam ein letztes Mal nach Danzig, um sich zu verabschieden. „Meine Eltern dachten, wer wird einem 15-jährigen Mädchen schon etwas tun. Ihr ganzes Leben lang haben sie es sich nie verziehen, dass sie Jutta wieder gehen ließen.“
Die Familie schafft es, Deutschland über Österreich und die Donau zu verlassen. Irgendwo im Schwarzen Meer kommen sie mit knapp 2.000 anderen jüdischen Flüchtlingen auf das griechische Frachtschiff „Atlantic“. „Drei Monate sind wir durch vermintes Meer geirrt, es war ungewiss, wo wir anlegen konnten und ob wir überhaupt ins Land gelassen werden“, erinnert sich Itzhak Baumwol.
Die Angst – und das Ausgeliefertsein
In seinem Fluchtbericht klingt vieles an, was Flüchtlinge auch heute erzählen. Die Angst, das Ausgeliefertsein, die Ungewissheit, welches Land sie aufnehmen wird, die Leichen im Meer …
Nach dem Willen der Engländer sollen die jüdischen Flüchtlingen in der Bucht von Haifa auf ein anderes Schiff, das sie nach Mauritius bringen soll. Die Einreise nach Palästina wird ihnen aber nicht gestattet.
Jutta Bauwol kommt Anfang der 1940er Jahre auf das Hachschara-Landgut in Neuendorf im Sande (siehe Grafik). Auch von dort aus schreibt sie regelmäßig Briefe an die Familie. Die ist inzwischen doch in Palästina angekommen: Weil die Mutter schwer krank ist, dürfen sie schließlich einreisen, leben dort zunächst in einem Lager.
Frei schreiben kann Jutta nicht, 25 Wörter pro Brief sind erlaubt. So erfährt die Familie auch nicht, dass Neuendorf inzwischen kein Hachschara-Landgut mehr ist, sondern ein Zwangsarbeiterlager. Im letzten Brief, den sie von ihr erhalten, findet sich ein versteckter Hinweis auf ihr Schicksal: „Sie schrieb uns, ich fahre zur Oma. Und die Oma war lange tot“, sagt Itzhak Baumwol. „Seid stark, schrieb sie, und am Ende auf Wiedersehen mit einem Fragezeichen. Sie wusste, dass sie nach Auschwitz kommt, sie kannte ihr Schicksal.“
Itzhak Baumwol wünscht sich ein Denkmal
Itzhak Baumwol ist inzwischen fast 90 Jahre alt. Jahrzehntelang hatte er sich bemüht, mehr über den Ort herauszufinden, an dem seine Schwester gelebt hatte, bevor die Nazis sie deportierten und vernichteten. Zwei Freundinnen von Jutta, die mit ihr zusammen in Neuendorf und dann in Auschwitz waren und überlebt haben, hatten der Familie später ein Foto aus Neuendorf gebracht und erzählt, dass Jutta in Auschwitz von einem Tag auf den anderen weg gewesen sei.
Durch Zufall stieß Baumwols Sohn auf die Webseite des Vereins Kulturscheune Neuendorf, die dort vor einem Jahr eine Ausstellung über das Hachschara-Landgut zusammengestellt hatten. Itzhak Baumwol rief beim Verein an und kam kurzerhand zur Eröffnung. Und er wünschte sich ein Denkmal.
Es ist seinem Engagement und seiner Energie zu verdanken, dass es nun, ein Jahr später, an der Zufahrt zum Gutshof steht. Die lebensgroße Silhouette einer jungen Frau, aus rostbraunem Eisen, auf einem Baumstumpf. Sie steht mit selbstbewusst erhobenem Kopf, der Rocksaum umspielt ihre Waden. Ein Arm in die Seite gestützt, der andere wie schützend, nah am Körper. Anscheinend hat sie gerade die Feldarbeit unterbrochen, denn vor ihr steckt eine Harke in der Erde. Sie blickt in die Ferne – oder in eine ungewisse Zukunft.
„Das Denkmal ist Jutta Baumwol und ihrer Geschichte nachempfunden. Aber es erinnert stellvertretend an die vielen jungen Menschen, die hier herkamen in der Hoffnung auf ein neues Leben“, sagt Arnold Bischinger vom Verein Kulturscheune Neuendorf. „Die Hachschara-Bewegung war Selbsthilfe der jüdischen Bevölkerung.“ In der Gedenkstätte Yad Vashem wird Jutta deshalb als Hachschara-Aktivistin aufgeführt. „In Neuendorf ist es neun Jahre lang gut gegangen. Es ist ein Denkmal, wo wir eigentlich nah bei dem stehen bleiben, wie es vielleicht damals war, dass also Jugendliche in Neuendorf gehofft haben, dass sie von hier aus einem guten Ende entgegensehen können.“
Die Verantwortung kommender Generationen
Die Zufahrt zum Gutshof liegt nur wenige hundert Meter entfernt von den Häusern, die sich um den Dorfanger von Neuendorf aneinanderreihen. Im April 1943 werden die letzten 159 Bewohner*innen des Gutshofs – unter ihnen auch Jutta Baumwol – erst nach Berlin und dann nach Auschwitz deportiert. Als Zwangsarbeiter*innen wurden sie auch auf den umliegenden Bauernhöfen eingesetzt.
Itzhak Baumwol
„Dass all das in Sichtweite der Menschen passiert ist, die hier gelebt haben, das ist es, was mich umtreibt, wenn ich an einem Ort wie diesem stehe“, sagt Itzhak Baumwols Sohn Nir Eilon bei der Eröffnung. „Wie deutlich wir an der Landschaft sehen können, dass die Dorfbewohner*innen etwas mitbekommen haben müssen, dass sie gewusst haben müssen, was hier passiert.“
Sein Vater mahnt bei der Einweihung, die kommenden Generationen hätten die Verantwortung, die Zukunft so zu gestalten, dass so etwas nie wieder geschieht. Er richtet sich dabei an die Schüler*innen der Clara-Grunwald-Grundschulen aus Kreuzberg und Hangelsberg, die in einem Projekt die Einweihung mit vorbereitet haben.
Der Verein Kulturscheune Neuendorf hat Baumwols Wunsch nach einem Denkmal von Anfang an unterstützt und mit umgesetzt. Die Vereinsmitglieder, allen voran Frauke und Arnold Bischinger, engagieren sich seit mehreren Jahren dafür, dass das Andenken an die besondere Geschichte des Landguts nicht in Vergessenheit gerät. Von offizieller Seite aus passierte nicht viel. Vor 30 Jahren wurde eine Gedenktafel an einem der Gebäude angebracht, auf Initiative des damaligen Gutshofleiters, Georg Weilbach. Inzwischen gehört das Landgut der Bima, der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Seit einem Jahr steht es zum Verkauf. 2017 wurde es außerdem unter Denkmalschutz gestellt.
Landgut steht zum Verkauf
Die Bima teilt auf Nachfrage mit, dass sie sich „dabei der historischen Bedeutung der Liegenschaft bewusst“ sei, wie deren Sprecher Thorsten Grützner sagt. Man werde die Verkaufsverhandlungen mit der notwendigen Sensibilität führen. Sie werde „beim Verkauf größtmögliche Rücksicht auf die Wahrung der historischen Belange nehmen“ und „habe dies bereits bei der Auswahl ihrer Verhandlungspartner berücksichtigt“.
Doch wer mit Bischinger spricht, bekommt schnell den Eindruck, dass dies nicht von Anfang an so war, sondern dass der Verein der Bima diese Zusage regelrecht abgetrotzt hat, immerhin mit einigem Erfolg. „Die Gruppe, die zurzeit mit der Bima verhandelt und das Gelände kaufen möchte, hat einen Verein gegründet und unseres Wissens nach auch Ideen und ein Konzept, um an die Geschichte des Ortes zu erinnern“, sagt er. Äußern möchten sich die potenziellen neuen Käufer allerdings noch nicht.
Ein Denkmal, „koste es, was es wolle“, hatte Itzhak Baumwol vor einem Jahr gesagt. Und schnell solle es gehen, denn er wisse nicht, wie viel Zeit ihm – als damals 87-Jährigem – noch bleibt. Jetzt, wo er nach dem Tod der Eltern und der anderen beiden Schwestern der Letzte ist, der die Geschichte von Jutta noch erzählen kann.
Mit rund 1.000 Euro haben sie für das Denkmal geplant, bestätigt Bischinger, die nach erstem Stand tatsächlich Baumwol selbst getragen hätte. Rolf Lindemann, Landrat des Landkreises Oder-Spree, der auch bei der Eröffnung sprach, ist erstaunt und auch leicht fassungslos, als die taz ihn am Rande der Einweihung darauf anspricht, wie er es denn bewerte, dass Itzhak Baumwol als Überlebender das Denkmal stifte. Er sagt spontan zu, sich beim Landkreis um eine Finanzierung zu kümmern – oder den Betrag „sonst aus eigener Tasche zu begleichen“. Der Landkreis hat inzwischen 700 Euro fürs Denkmal bewilligt, die Gemeinde Steinhöfel wird eventuell auch einen Teil übernehmen.
Ein später, aber wichtiger Trost
Zur Eröffnung des Denkmals verlesen Schüler*innen der Clara-Grunwald-Grundschulen aus Berlin und dem brandenburgischen Hangelsberg die Namen der 159 Menschen, die mit den letzten beiden Zügen aus Neuendorf deportiert wurden. Die meisten kamen nach Auschwitz, die meisten wurden dort ermordet und vernichtet. Unter ihnen ist neben Jutta Baumwol auch die Montessori-Pädagogin und Namensgeberin ihrer Schulen, Clara Grunwald. Die Schüler*innen haben die Namen auf weiße Wimpel geschrieben, die nun zwischen den Bäumen an der Zufahrt zum Gutshof flattern.
Ein später, ein kleiner, aber ein wichtiger Trost für Itzhak Baumwol. „Es ist mir etwas aus dem Herzen herausgekommen, denn alles, was drinnen war, ist jetzt draußen“, sagt Baumwol direkt nach der Einweihung im Juni.
Seinen drei Kindern, den Nichten und Neffen und Enkel*innen, von denen viele bei der Einweihung anwesend sind, hat er das Versprechen abgenommen, dass sie oft an diesen Ort zurückkehren werden, um ihrer Tante, die sie aus seinen Erzählungen kennen, zu gedenken. „Für mich bedeutet es, dass Jutta ein Grab hat. Dass nicht nur ihre Asche irgendwo übrig geblieben ist“, sagt er. „Es ist mir jetzt viel, viel leichter, dass auch meine Nachfolger einen Ort für Jutta haben, wenn sie für einen Ausflug oder zu Besuch hierher kommen.“
Dieser Text ist Teil eines Schwerpunktes in der taz.berlin am Wochenende vom 28./29.7.2018.
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