Deniz Yücel über die Haft und die Türkei: „Die Wut habe ich im Knast gelassen“
Ein Jahr saß Deniz Yücel ohne Anklage im türkischen Knast. Er und seine Frau sprechen erstmals nach seiner Freilassung gemeinsam mit der taz und der „Welt“.
Doris Akrap: Jedes Mal, wenn Daniel oder ich in den letzten zwölf Monaten zu deinem Fall interviewt wurden, lautete die erste Frage: „Wie geht es Deniz?“ Jetzt kannst du endlich selbst drauf antworten.
Deniz Yücel: Danke, sehr gut. Und zwar aus zwei Gründen: Zum einen, weil ich das große Glück hatte, dass meine Frau Dilek immer an meiner Seite stand, mir den Heiratsantrag in den Knast geschickt und alles für mich getan hat, das gerade nötig war – Angela Merkel treffen, Socken in den Knast bringen, was auch immer. Außerdem waren meine Anwälte eine riesige Stütze. Dazu die FreeDeniz-Solidarität, meine Zeitung, die Welt, die taz, Kollegen in anderen Redaktionen, die Mahnwachen in meiner Heimatstadt Flörsheim, die Autokorsos, Lesungen, Solidaritätsanzeigen, Preise, Briefe… All das gab mir das Gefühl: Ich bin nicht vergessen, ich werde hier nicht verfaulen.
Daniel-Dylan Böhmer: Und der zweite Grund?
Yücel: Im Knast dachte ich immer: Das hier geht vorbei. Ob es ein paar Monate länger oder kürzer dauert, ist nicht egal. Aber wichtiger ist, wie es mir gehen wird, wenn ich hier rauskomme. Das Wichtigste ist, dass ich mich nicht fertigmachen lasse. Das hieß allem voran, dass ich mir Möglichkeiten schaffe, meine Stimme zu erheben. Die wollten mich zum Verstummen bringen. Das haben sie nicht geschafft. Ich habe Interviews gegeben und einige Texte für meine Zeitung geschrieben. Diese öffentlichen Wortmeldungen waren eine Art vorweggenommene Eigentherapie – und Ausgleich dafür, dass ich ein Jahr lang ohne Anklage festgehalten wurde. Man hat mir keine Möglichkeit gegeben, mich vor Gericht gegen die Anschuldigungen von Tayyip Erdoğan und anderen zu verteidigen. So wurde ich zur größten Laberbacke wo gibt im türkischen Knast.
Böhmer: Gibt es Dinge, an die du dich in Freiheit erst wieder gewöhnen musst?
Yücel: Heute bin ich frühmorgens in den Ort hier gegangen. Ich war beim Friseur, habe einen Kaffee getrunken, bin über den Markt geschlendert und habe ein paar Sachen gekauft. Auf dem Weg zurück, mit meinen Einkaufstüten voller Orangen, Erdbeeren und Petersilie dachte ich: Wie schön das ist, über einen Markt gehen zu können. Dasselbe denke ich manchmal, wenn ich in den Nachthimmel schaue. Nachts war die Tür zum Innenhof immer verschlossen, darum habe ich ein Jahr lang keine Sterne gesehen. Und keinen Himmel ohne Draht. Ich guck’ jetzt zwar nicht in den Himmel und denke: „Oh, da fehlt ja der Draht! Ich muss mich bei der Anstaltsleitung beschweren.“ Aber es gibt immer wieder Momente, an denen ich innehalte und merke, dass Dinge, die ich vorher für selbstverständlich hielt, etwas Kostbares geworden sind. Mit Dilek im Gras zu liegen beispielsweise.
Böhmer: Im Dezember wurdest du in eine Zelle verlegt, die über einen kleinen Innenhof mit der Zelle des türkischen Journalisten Oğuz Usluer verbunden war. Aber wie waren die Monate davor, in strenger Isolation? Was macht das mit einem? Wie beobachtet man das an sich selbst?
Yücel: Als das Hafturteil gesprochen wurde, sagte mein Anwalt Veysel Ok zu mir: „Höchstens fünf Monate! Länger können sie dich nicht festhalten.“ So habe auch ich das eingeschätzt. So einen Konflikt mit Deutschland wird sich die Türkei aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht leisten können, nur wegen eines Journalisten einer großen deutschen Tageszeitung, dem nichts als ein paar Artikel vorgeworfen werden. Ich habe dann am eigenen Leib erfahren, dass diese Prämissen der türkischen Außenpolitik nicht mehr gelten. Doch gegen Ende der fünf Monate, im Juli, wurde Peter Steudtner mit den anderen Menschenrechtlern verhaftet, zugleich wurde eine Liste mit deutschen Großunternehmen bekannt, die bei türkischen Behörden unter Terrorverdacht standen. Dieses Regime hat keine Außenpolitik, sondern lebt von einem Tag auf den anderen. Ab Steudtners Festnahme habe ich mir kein Datum mehr gesetzt. Ich kam stattdessen auf die Idee, aus meinen alten Texten, die auf den Solidaritätslesungen in Deutschland so gut ankamen, das Buch „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“ zu machen. Daran habe ich, zusammen mit Doris, so intensiv gearbeitet, dass ich keine Zeit mehr hatte, darüber nachzudenken, was die Isolationshaft mit mir macht.
Böhmer: Was du jetzt beschreibst, ist ja schon der zweite Schritt, nämlich wie man das bekämpft, was da möglicherweise in der Isolation mit einem passiert. Aber was ist das, was man da bekämpft?
Yücel: Verzweiflung, Wut, Angst.
Böhmer: Angst davor, dass man sich verändert?
Yücel: Ich hatte immer die Hoffnung, in absehbarer Zeit freizukommen. Ich weiß also nicht, wie sich Knast anfühlt, wenn du zu zehn, zwanzig Jahren verurteilt wurdest, alle Rechtsmittel erschöpft sind und du weißt: Es gibt keine Hoffnung mehr. Und dennoch gab es gerade anfangs die Angst, in diesem Loch zu verrotten.
Böhmer: Und hat deine Gegenwehr immer geholfen?
Yücel: Am schwierigsten waren die ersten Wochen. Ich hatte Angst, nach der ersten Aufregung vergessen zu werden. Und außer meiner Schwester Ilkay und meinem Vater Ziya, die mich zweimal für eine Stunde besuchen kamen, habe ich nur meine Anwälte gesehen. Erst nachdem Dilek und ich im April geheiratet hatten, durfte sie mich besuchen. Wichtig in dieser ersten Zeit war zu merken, dass ich kämpfen konnte; dass es an mir lag, ob sie die totale Kontrolle über mein Leben bekamen, die sie wollten. Das fing im Polizeigewahrsam an, wo Papier und Stift verboten waren, ich aber mit einem geklauten Stift in ein Exemplar des „Kleinen Prinzen“ einen Bericht über die Haftbedingungen schrieb und hinausschmuggelte. Das hat mir Kraft gegeben für die folgende Isolationshaft. Oder, eine kleinere Geschichte: Bei der ersten wöchentlichen Bestellung im Knastladen habe ich Rasierklingen gekauft, aber den Rasierstab vergessen. Daraufhin habe ich die Klinge auf den Stiel einer Gabel gesteckt und mich rasiert. Solche Erfahrungen waren ungemein wichtig: Auch wenn schreiben verboten ist oder ich nicht einfach im Laden um die Ecke mir besorgen kann, was gerade fehlt, oder wenn der Staatspräsident rumquäkt und mich als Agenten und Terroristen beschimpft und ich hier ganz allein bin – ich komme damit klar. Ich schaffe das.
Deniz Yücel, Jahrgang 1973, kommt aus dem hessischen Flörsheim. Der deutsch-türkische Journalist war lange Jahre Redakteur bei der Jungle World und danach bei der taz, bevor er im Frühjahr 2015 Türkei-Korrespondent der Welt wurde. Am 14. Februar 2017 wurde Yücel in Istanbul festgenommen, am 27. Februar wurde wegen des Verdachts der „Terrorpropaganda“ und der „Aufwiegelung der Bevölkerung“ Untersuchungshaft gegen ihn verhängt. Er saß ohne Anklage im Gefängnis in Silivri, wo er am 12. April Dilek Mayatürk heiratete. Präsident Recep Tayyip Erdogan warf Yücel vor, ein „deutscher Agent“ und „Terrorist“ zu sein. Am 16. Februar 2018 wurde er aus der Haft entlassen und verließ die Türkei gemeinsam mit seiner Ehefrau.
Sein letztes Buch mit dem Titel „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“ erschien genau ein Jahr nach seiner Festnahme am 14. Feburar in der Edition Nautilus. Es enthält eine Sammlung aus überarbeiteten Texten aus der Welt, der taz und der Jungle World, ergänzt ein paar neue Beiträge von Yücel selber und Dilek Mayatürk Yücel.
Böhmer: Haben dich diese Erfahrungen im Kleinen auch im Großen stärker gemacht?
Yücel: Bestimmt.
Böhmer: Bleibt das?
Yücel: Das weiß ich nicht. Ich bin milder geworden. Auch gegenüber Redakteuren. Man lernt, dass man nicht über jede Zwischenüberschrift diskutieren muss.
Akrap: Dazu braucht es nicht unbedingt Knasterfahrung.
Yücel: Bei mir schon. Aber was ist erstrebenswerter? Im Knast seine Fehler und Macken zu überwinden und zu lernen, falsche Prioritäten von richtigen zu unterscheiden – also das Gefängnis als Besserungsanstalt anzuerkennen? Oder sich von so ein bisschen Knast nicht beeindrucken zu lassen? Ich denke, es ist erstrebenswerter, im Bescheuerten wie im Schönen derselbe zu bleiben.
Böhmer: Dilek, wie hast du die Zeit ohne Deniz erlebt?
Mayatürk Yücel: Unsere Beziehung war ja noch relativ neu, als Deniz ins Gefängnis kam. Wir haben unsere Beziehung in einer Situation entwickelt, in der wir durch eine Scheibe getrennt waren, in der unsere Gespräche aufgezeichnet wurden und wir unter der Beobachtung standen. Aber auch in einer anderen Hinsicht waren wir nie zu zweit: Wir kannten uns noch nicht so lange und plötzlich habe ich lauter Menschen kennengelernt, die in Deniz’ Leben eine Rolle spielen, die ich aber bislang nicht oder kaum kannte. Jetzt war ich ständig mit diesen Menschen zusammen und habe mit ihnen über Deniz gesprochen. Aber er war nicht da.
Akrap: Wie übersteht man so eine Situation?
Mayatürk Yücel: Mir war klar, dass es lange dauern würde. Dass wir einen Marathon laufen, ohne zu wissen, wie lang die Strecke ist. Das Wichtige war für mich, wie wir diese Sache erleben und wie wir sie zu Ende bringen. Das bedeutete für mich auch, mich körperlich und mental gesund zu halten und Deniz in guter Verfassung zu besuchen. Ich habe ihm immer, bei jedem Besuch gesagt: „Das hier wird zu Ende gehen. Wir werden das zu Ende bringen. Es wird ein Leben danach geben.“ Aber ich wusste auch: Selbst nach der Freilassung wird nicht plötzlich alles aufhören. Was wir erlebt haben, wird uns noch eine ganze Weile lang beschäftigen.
Böhmer: Was wünschst du dir für deine und eure Zukunft?
Mayatürk Yücel: Dieses Jahr hat mir sehr viel Lebenserfahrung gebracht. Aber ich will wieder in meinem Beruf arbeiten. Ich bin Fernsehproduzentin und Dokumentarfilmerin. Und prinzipiell kann ich von jedem Punkt der Welt über einen anderen Punkt der Welt arbeiten. Ich wünsche mir ein Leben an einem schönen Flecken Erde mit Deniz an meiner Seite.
Akrap: Habt ihr schon im Gefängnis über die Zeit danach geredet?
Yücel: Dilek schrieb mir ins Gefängnis, sie würde gern irgendwo leben, wo unsere Füße die Erde berühren. Darüber haben wir uns ein paar Mal in Briefen ausgetauscht und uns überlegt, wo wir uns niederlassen können. Aber ich bin stets davon ausgegangen, dass wir erst mal in der Türkei bleiben würden, weil ich angenommen habe, dass sie den Schein wahren und wie bei den anderen freigelassenen Kollegen eine Ausreisesperre verfügen würden.
Mayatürk Yücel: Wenn man versucht, ganz schnell Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, funktioniert das nicht. Man braucht Zeit, um sich zu erholen. Vieles geht ja weiter.
Böhmer: Was geht weiter?
Mayatürk Yücel: Zum Beispiel, dass ich ausnahmslos jede Nacht davon träume, wie Deniz im Gefängnis ist und dann freigelassen wird. Also, die Haft, die Vorbereitung der Freilassung – jede Nacht führe ich dieselben Gespräche mit anderen Beteiligten und kämpfe um seine Freilassung. Das hört nicht auf.
Akrap: Wovon träumst du, Deniz?
Yücel: Ich habe keine Traumgeschichte zu erzählen. Nur ein einziges Mal sah ich meinen Zellennachbarn Oğuz, mit dem ich in kurzer Zeit Freundschaft geschlossen habe. Vielleicht würde der Fachmann sagen, ich verdränge etwas.
Akrap: Dilek, Deniz hat aus dem Gefängnis einige ziemlich meinungsstarke Texte veröffentlicht und recht pointierte schriftliche Interviews gegeben. Was hast du da durchgemacht, wenn das mal wieder bevorstand?
Mayatürk Yücel: Herzrasen! In einem Land, in dem Menschen wegen Tweets verhaftet und Dinge in Texte reininterpretiert werden, kann alles passieren. Alles kann Eingang in eine Anklage finden. Wir haben schon bei der Verhaftung die Erfahrung gemacht, dass sie seine Worte böswillig auslegen und Sachen falsch übersetzen. In einer Situation, in der die Anklage noch nicht vorlag, bedeutete jede Wortmeldung ein Risiko. Aber ich wusste auch, warum das Deniz wichtig war. Und viele seiner Texte habe ich abgetippt.
Böhmer: Deniz, deine Zeitung, ich und du, waren uns auch nicht immer einig, was gerade klug ist zu sagen. Gab es Momente, wo du dich zensiert gefühlt hast?
Doris Akrap ist Redakteurin der taz am wochenende und Mitgründerin des Freundeskreises #FreeDeniz, der Solidaritätsaktionen für Deniz Yücel organisiert hat. Daniel-Dylan Böhmer ist Senior Editor der Welt und zentraler Ansprechpartner für Deniz in der Welt. Doris Akrap und Daniel-Dylan Böhmer waren bei Deniz' Inhaftierung im Justizpalast von Istanbul und bei seiner Freilassung aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Silivri dabei. Gemeinsam haben sie das Jahr dazwischen an der publizistischen Solidarität von taz bis Welt gearbeitet.
Das Interview mit Deniz Yücel und Dilek Mayatürk Yücel wurde außerhalb Deutschlands, in Südeuropa geführt.
Yücel: Nein. Erinnerst du dich an den letzten Text, den ich für die Welt geschrieben habe? Das waren meine Antworten auf einige Leserbriefe. Da habe ich dir die Ansage gemacht: „Du kriegst 20.000 Zeichen, super Text, räum’ den Platz frei!“ Solche Ansagen kann man als Autor seinem Redakteur normalerweise nicht machen. Nur ganz am Anfang, bei meiner ersten ausführlichen Veröffentlichung, hatten wir eine Diskussion. Ihr habt zur Zurückhaltung geraten, konntet mich aber nicht überzeugen. Schließlich habe ich gedroht, meinen Kram notfalls woanders zu veröffentlichen. Das hat funktioniert. Du siehst: Zu enger Umgang mit dem türkischen Staatspräsidenten färbt ab – eine kleine Erpressung hier, ein bisschen Nötigung dort… Nein, im Ernst: Ich habe eure Sorgen verstanden. Aber vor allem habt ihr meine Gründe verstanden, glaube ich jedenfalls. Und nach dieser ersten Diskussion hat Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt gesagt: „Wir drucken alles, was von Deniz kommt. In voller Länge.“ Das hört man natürlich gerne von seinem Chefredakteur.
Akrap: Hat die Kampagne für deine Freilassung dazu geführt, dass du länger im Gefängnis saßt?
Yücel: Nein. Selbst wenn es keine FreeDeniz-Kampagne gegeben hätte, keinen Autokorso, keine Lesungen, hätten andere Journalisten und Oppositionspolitiker die Bundesregierung nach mir gefragt. Es wäre nicht möglich gewesen, meinen Fall aus der Öffentlichkeit zu halten, zumal auch der türkische Präsident immer wieder öffentlich über mich gesprochen hat. Sicher ist: Mir tat die Solidarität gut. Und ich bin ja nicht im Gefängnis gelandet, weil ich Pech hatte, sondern weil ich meine Arbeit als Journalist gemacht habe. Ich bin nicht zum Spaß zum Interview mit dem PKK-Vizechef gefahren, sondern im Auftrag meiner Zeitung und im weiteren Sinne im Auftrag der Öffentlichkeit. Wenn ich im Zusammenhang mit dieser Aufgabe verhaftet werde, wäre es widersinnig, danach aus der Öffentlichkeit zu verschwinden.
Akrap: Den Diplomaten wäre Stille vielleicht lieber gewesen.
Yücel: Zwischenstaatliche Probleme möglichst leise zu verhandeln, steht im Diplomatenlehrbuch. Das galt vielleicht für die Sowjetunion, aber das gilt nicht für Tayyipistan. Wenn du es mit einem Politiker zu tun hast, der seinen Anhängern ein neues Feindbild präsentieren muss, helfen diese Lehrsätze nicht.
Mayatürk Yücel: Ich bin nicht dieser Ansicht. Erst durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die Kampagne, die Medien und Statements deutscher Politiker hat die türkische Seite bemerkt, dass sie Deniz als Trumpf im deutsch-türkischen Verhältnis benutzen kann. Ich glaube, das hat dazu geführt, dass Deniz in Isolationshaft kam, dass er ein Jahr lang auf seine Anklage gewartet und länger im Gefängnis gesessen hat.
Yücel: Vielleicht hätte ich mit etwas weniger Kampagne und etwas weniger Politikeräußerungen drei Monate kürzer gesessen. Aber mich zu fragen „Habe ich keine Freunde, habe ich keine Kollegen, gibt es niemanden, der sich für mich einsetzt?“ wäre viel deprimierender gewesen als die Aussicht, ein paar Monate länger im Knast zu verbringen.
Mayatürk Yücel: Ich hätte mir gewünscht, dass unsere Unterstützer und die Bundesregierung sich stärker vergegenwärtigt hätten, wie bestimmte Sachen in der Türkei ankommen. Wir hatten es schließlich mit einem unberechenbaren Regime zu tun.
Böhmer: Auch wir bei der Welt haben uns immer wieder gefragt: Wie können wir adäquat auf diese Situation in der Türkei eingehen? Aber die türkische Regierung hat ja selbst polarisiert, weil sie davon beim Verfassungsreferendum profitieren wollte.
Mayatürk Yücel: Als die Referendumskampagne losging, war der Fall schon prominent. Und auch in Deutschland wurde Deniz zum Wahlkampfthema.
Yücel: Für alle Beteiligten war diese Geschichte eine ohne Vorlage, ohne Erfahrung, auf die man hätte zurückgreifen können. Deswegen würde ich mit allen Beteiligten nicht so scharf ins Gericht gehen. Natürlich gab es Konflikte und Diskussionen zwischen uns, vielleicht hat jeder Einzelne und haben wir alle zusammen das eine oder andere gemacht, das wir besser gelassen hätten. Aber meine Güte! Meine Bilanz ist: Das haben wir alle zusammen gut hingekriegt.
Akrap: Glaubst du, dass die Bundesregierung genug für dich getan hat?
Yücel: Ich glaube, die Bundesregierung war sehr in Sorge und hat sich nach Kräften um meine Freilassung bemüht. Wir hatten manchmal Differenzen. Aber die Bundesregierung stand sowohl politisch an meiner Seite als auch juristisch, also im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und der deutsche Generalkonsul Georg Birgelen, der mich etwa einmal im Monat besuchen kam, hat seine Sache wirklich großartig gemacht.
Akrap: Eine der Forderungen von #FreeDeniz war, dass die Bundesregierung Hermes-Bürgschaften für den Handel mit der Türkei einschränken solle. Nun stellt sich heraus, dass ausgerechnet 2017 deutlich mehr Exporte in die Türkei abgesichert wurden als im Vorjahr. Waren Wirtschaftsinteressen am Ende wichtiger?
Yücel: Bis zu meiner Inhaftierung war ich Journalist, Beobachter dieses Verhältnisses. Plötzlich wurde ich selbst zu dessen Gegenstand. Darum möchte ich die Türkei-Politik der Bundesregierung von Angela Merkel nicht im Lichte meiner Geschichte bewerten. Das eine ist das, was ich aus dem Gefängnis gesagt habe: Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung. Aber ich wusste auch, dass es zur Natur einer Geiselnahme gehört, dass der Geiselnehmer seine Geisel freilässt, wenn er meint, eine Gegenleistung bekommen zu haben. So wie man mich nicht nach meiner Meinung gefragt hat, ob ich in den Knast will, war mir auch klar, dass man mich nicht nach meiner Meinung fragen würde, ob ich wieder rausmöchte. Da hätte ich lange sagen können: „Nee, ich weiß jetzt nicht so ganz genau, was da abgesprochen wurde, deswegen verlasse ich den Knast nicht.“
Akrap: Zugetraut hätte ich es dir.
Yücel: Vielleicht. Aber ich sag dir, wie die darauf reagiert hätten: „Raus hier, Spinner!“
Böhmer: Aber du hast doch sicher eine Meinung zur deutschen Türkei-Politik.
Yücel: Grundsätzlich denke ich, dass die Regierung von Angela Merkel alle progressiven und demokratischen Kräfte in der Türkei zweimal verraten hat. Das erste Mal 2005, als die politische Entwicklung der Türkei noch in Richtung einer Europäisierung ging. Da hat die Bundesregierung den Türken klargemacht: Ihr kommt nicht in die EU, völlig egal, was ihr tut. Der zweite Verrat war der Besuch der Bundeskanzlerin im Zuge der Flüchtlingskrise und zwei Wochen vor der Wahlwiederholung im November 2015, als sie der Türkei eine Aufhebung der Visumspflicht in Aussicht gestellt hat. Das war eine in der internationalen Diplomatie völlig unübliche Wahlkampfhilfe. Bis zu meiner Verhaftung war die deutsche Regierung diejenige innerhalb der EU, die am freundlichsten gegenüber der Türkei war. Auch nach dem Ausnahmezustand; auch als die Verhaftungen von Oppositionspolitikern und Journalisten begannen. Natürlich ist die Türkei kein Land, bei dem Deutschland einfach sagen kann: Wir wollen mit denen nichts mehr zu tun haben. Umgekehrt ist die Türkei, so großmäulig sie auftritt, extrem abhängig vom Ausland. Damit kann und muss man arbeiten. Das türkische Regime hofft, dass es in den außenpolitischen Beziehungen Politik und Geschäft trennen kann. Ich glaube, es wäre falsch, dieses Spiel mitzuspielen.
Akrap: Der Ton gegenüber Ankara wurde im Zuge deiner Freilassung entschieden freundlicher. Stört dich das?
Yücel: Ich würde mich nicht so sehr an mit der Frage des Tons aufhalten. Wenn dieses Regime eines kann, dann ist es Krawall. Auf diesen Wettbewerb sollte man sich nicht einlassen, weil man den nur verlieren kann. Das ist so, als würde man die Türken im Autokorsofahren herausfordern anstatt im Fußball.
Akrap: Entschuldige, aber ich würde sagen, im deutsch-türkischen Autokorso-Wettbewerb steht es derzeit unentschieden.
Yücel: Okay, dann im Börekbacken. Entscheidender als der Ton jedenfalls ist, was Gegenstand von Politik und auch von Wirtschaftspolitik ist. Man kann ruhig Tee einschenken, wenn man mit dem Tee reinen Wein einschenkt.
Böhmer: Seit dieser Teestunde des damaligen Außenministers Sigmar Gabriel mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu in Goslar wird über ein Tauschgeschäft spekuliert. Wenn jetzt deutsche Rüstungsgüter an die Türkei geliefert werden oder deutsche Behörden Druck auf kurdische Verbände ausüben, sagen manche, du seist doch Teil eines schmutzigen Deals gewesen.
Yücel: Ich weiß nichts von einem Deal. Mir wurde vor meiner Freilassung durch die Vertreter des Generalkonsulats, mit denen ich an diesem Tag zweimal gesprochen habe, versichert, dass es keinen Deal gegeben habe. Ich glaube, mehr als der Bundesregierung diese Erklärung abzuverlangen, konnte ich im Knast nicht tun.
Akrap: Das Verfahren gegen dich läuft weiter. Die erste Sitzung steht im Juni an, die Staatsanwaltschaft fordert bis zu 18 Jahre Haft. Hast du schon entschieden, ob du noch mal zurück in die Türkei gehst?
Yücel: Nein, so weit bin ich, sind wir noch nicht. Ich habe die Türkei nicht mit dem Gefühl verlassen: Bloß weg aus dieser ganzen Scheiße hier, ich will nie wieder was damit zu tun haben. Ich wusste ja, worauf ich mich einließ, als ich im Frühjahr 2015 meinen Korrespondentenjob antrat. Zwar war die Situation damals weniger dramatisch. Aber ich wusste, wenn man als Journalist in diesem Land lebt und seine Sache halbwegs ordentlich macht, lebt man gefährlich. Dann können einem schlimmstenfalls noch ganz andere Sachen passieren, als dass man seiner Freiheit beraubt wird.
Böhmer: Du hast von Anfang an damit gerechnet, dass du ins Gefängnis kommen könntest?
Yücel: Natürlich war das im Bereich des Denkbaren, aber es schien mir nicht sehr wahrscheinlich. Sonst hätte ich das nicht gemacht. Ich war nicht scharf darauf, ins Gefängnis zu kommen. Aber es ist was anderes, ob du als Korrespondent in die Türkei gehst oder nach Norwegen. Das war auch schon 2015 oder 1995 so. Das weißt du erst recht, wenn du dieses Land und die Sprache kennst, auch die Chiffren und die Codes.
Böhmer: Gibt es etwas, von dem du rückblickend denkst, das hättest du anders machen sollen, um deine Verhaftung zu verhindern?
Yücel: Nein.
Böhmer: Hättest du etwas unterlassen können, was zu deiner Verhaftung geführt hat?
Yücel: Ich denke nicht. Ich wurde zum Beispiel nicht verhaftet, weil ich den stellvertretenden PKK-Chef interviewt habe. Das Interview habe ich im August 2015, anderthalb Jahre vor meiner Festnahme, geführt. Noch ein paar Wochen zuvor hatte auch die türkische Regierung mit ihm verhandelt. Das Fiese ist ja, dass sie die Spielregeln – oder besser: die Freund-Feind-Zuschreibungen – rückwirkend ändern.
Böhmer: Warum wurdest du dann festgenommen?
Yücel: Der Anlass war meine Berichterstattung über die gehackten E-Mails des Energieministers, der Erdoğans Schwiegersohn ist. Darüber hatte ich wie einige andere auch berichtet. Aber ab dem Moment, wo du durch irgendwas in deren Fänge gerätst, schauen sie: Was können wir dem andichten? Ich war durch meine gesamte Arbeit aufgefallen. Ich war einer von drei deutschen Journalisten, die keinen Presseausweis bekommen haben. Die wussten, mit wem sie es zu tun hatten.
Böhmer: Muss man das Risiko, inhaftiert zu werden, grundsätzlich in Kauf nehmen, wenn man seinen Job als Journalist ordentlich macht unter einem Regime, dem die Meinungs- und Pressefreiheit egal ist?
Yücel: Ich glaube: ja. Du kannst einzelne Fragen abwägen. Aber du kannst nicht deine komplette Arbeit danach gestalten. Gerade in Ländern, in denen Journalismus am meisten vonnöten ist, ist die Risikoabwägung besonders schwierig. Die Frage „Ist der slowakische Kollege Ján Kuciak ein Risiko eingegangen, indem er über Korruption berichtet hat?“ bedeutet in Wahrheit: „War er selber schuld an seinem Tod?“ Aber nicht Ján Kuciak ist schuld an seiner Ermordung, sondern die Mörder und deren Auftraggeber. Man erfüllt als Journalist eine gesellschaftliche Aufgabe. Und der Mord in der Slowakei und kurz davor die Ermordung von Daphne Caruana Galizia in Malta und die Situation der Medien in Polen und Ungarn zeigen, dass auch in der EU die Rechte und Freiheiten in einer Weise gefährdet sind, wie wir es uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Aber im schlimmsten Fall ist die Peripherie hierin Avantgarde. Im schlimmsten Fall steht die Türkei heute schon dort, wo Europa in einigen Jahren ankommen könnte: am Ende der offenen Gesellschaft, knietief in der Diktatur.
Akrap: Ist dir die Türkei durch deine Inhaftierung fremder geworden?
Yücel: Ich bin gleichermaßen deutscher und türkischer geworden. Ich habe nie so oft Sätze formuliert, die mit „Bei uns in Deutschland ist das ja so …“ anfingen, wie im Gefängnis. Zugleich habe ich in meiner Zelle ständig mit einer Gebetskette herumgespielt, die mir Dilek geschenkt hatte. Mehr Traditionstürke geht nicht. Aber das Leben draußen ging ja weiter. Ich hatte mit dem Gezi-Aufstand von 2013 begonnen, mich journalistisch und persönlich wieder stärker für die Türkei zu interessieren. Aber all das, was mit dem Aufbruch von Gezi begonnen hatte, ist bis auf Weiteres zerschmettert. Viele meiner Istanbuler Freunde haben das Land verlassen. Oder, anderes Beispiel: Ich war im Sommer gerne im Maçka-Park, ein paar Schritte von meiner Wohnung in Besiktas entfernt. Kürzlich wurde ein Teil dieses Parks für ein Verkehrsvorhaben abgerissen. Und im Sommer sorgte die Nachricht für Aufsehen, dass Sicherheitsleute eine Frau aus dem Park geworfen haben, weil sie ihr Dekolletee zu tief fanden. In Besiktas, wo die AKP bei gerade mal 15 Prozent liegt, wäre so etwas früher undenkbar gewesen. Also: Ja, dieses Land ist mir fremder geworden. Aber nicht durch meine Verhaftung. Die hat eher das Gegenteil bewirkt.
Akrap: Wie meinst du das?
Yücel: Wie könnte man ein noch intimeres Verhältnis zu einem Land aufbauen, als in dessen Knast zu sitzen? Mein Freund Imran Ayata sagte mir an meinem zweiten Abend in Freiheit: „Vergiss den Scheiß da! Du bist Deniz aus Flörsheim.“ Stimmt, das war ich, als ich als Korrespondent nach Istanbul gegangen bin und vielleicht auch noch, als ich verhaftet wurde. Aber ich habe in der Türkei ein Jahr in einem Gefängnis verbracht. Und egal, ob ich in absehbarer Zeit dahin zurückgehe, ich bin so eng mit diesem Land verbunden, wie ich es nie zuvor war – obwohl die Regierung dieses Landes, dessen Staatsbürger ich von Geburt an bin, mich als Feind behandelt und als Geisel genommen hat, während die Regierung jenes Landes, dessen Staatsbürgerschaft ich erst später erworben habe, sich für mich eingesetzt hat.
Akrap: Dilek, du hattest schon im November 2016 entschieden zu gehen, weil du ein Jobangebot in München hattest und weil du nicht mehr in der Türkei leben wolltest. Wie siehst du das jetzt?
Mayatürk Yücel: Ich habe immer versucht, als Weltbürgerin zu leben und zu arbeiten. Ich habe damals für eine Produktionsfirma von BBC Arabic gearbeitet und war beruflich schon immer an Orten, an denen hässliche Sachen passierten. Der Moment, in dem ich beschlossen habe, die Türkei zu verlassen, war die Nacht des Putschversuchs. Ich dachte mir, dass diese Nacht Folgen haben wird, die auch mich persönlich betreffen können. Und das wollte ich nicht.
Akrap: Du hattest in dem Jahr ständig Kontakt mit der deutschen und der türkischen Regierung. Waren das ähnliche Begegnungen oder ist es etwas anderes, mit deutschen und mit türkischen Behörden zu verhandeln?
Mayatürk Yücel: Da gibt es auf der einen Seite Deutschland, eine anerkannte Demokratie und ein Rechtsstaat. Und auf der anderen Seite ein Land, in dem das Gegenteil davon herrscht. Trotzdem musst du für beide Seiten eine Sprache finden. Ich bin nie so aufgetreten, als würde ich nur von der deutschen Seite Hilfe erwarten und der türkischen den Rücken zuwenden. Den türkischen Vertretern habe ich gesagt: „Das ist auch euer Bürger, ihr steht in der Verantwortung. Ich habe sie gefragt: Warum ist Deniz in Isolationshaft? Warum werden seine Briefe nicht zugestellt? Warum wird er selbst beim Sport alleine gelassen?“ Es war mir wichtig, diesen Dialog zu führen.
Akrap: Und der war auch fruchtbar?
Yücel: In Sachen Haftbedingungen teilweise schon. Ein Beispiel: Bei den Besuchen ohne Trennscheibe dürfen Ehepartner nicht neben den Gefangenen sitzen, sondern am Tisch gegenüber. Dilek hat sich im Gespräch mit dem stellvertretenden Justizminister die Erlaubnis erkämpft, dass wir nebeneinander sitzen dürfen.
Mayatürk Yücel: Noch wichtiger: Meine Gespräche mit der türkischen Seite haben, zusammen mit den Bemühungen der Bundesregierung, dazu geführt, dass Anfang Dezember die totale Isolationshaft aufgehoben wurde. Wenn ich den Verantwortlichen das Unrecht ins Gesicht gesagt habe, wussten die manchmal einfach nichts darauf zu sagen. Ich habe zum Beispiel dem stellvertretenden Justizminister erzählt, dass selbst Briefe, die von der Welt ins Türkische übersetzt worden waren, nicht an Deniz weitergegeben wurden, obwohl es zuvor geheißen hatte, türkische Briefe würden zugestellt. Das hat auch ihn überrascht.
Akrap: Wann und wie hast du erfahren, dass du freigelassen wirst?
Yücel: Am Freitagmittag in meiner Zelle, als im Nachrichtensender Halk TV die Eilmeldung kam: „Deniz Yücel ist frei.“ Da habe ich auf CNN-Türk umgeschaltet, auch dort hieß es: „Deniz Yücel ist frei.“ Ich sah mich um und dachte: Na ja, noch nicht so ganz. Dann lief ich zu meinem Nachbarn, dem Journalisten Oğuz Usluer. Wir haben uns umarmt. Kurz darauf kamen die Aufseher und sagten: „Sachen packen, du kommst frei.“ Ich habe alles in Mülltüten gepackt, die in eine Art Handkarren geladen wurden. Dann ging es zum Gefängnisdirektor, um die Formalitäten zu erledigen. In seinem Büro hatten sich die Oberaufseher versammelt. Alle lächelten. In so dieser Situation wollen sie Absolution – und dass alle nett zueinander sind.
Akrap: Lass mich raten: Du warst nicht nett.
Yücel: Ich habe nach den Briefen gefragt, die mir nicht zugestellt worden waren, der Direktor hat mir drei überreicht. Ganze drei! Ihr wisst, dass mir die Briefe von Dilek und von meiner Schwiegermutter ausgehändigt wurden. Ansonsten bekam ich nur sehr vereinzelt Briefe. Da musste ein ganzer Berg auf mich warten.
Böhmer: Wir haben allein von der SchreibDeniz-Aktion ungefähr 2.000 Briefe unserer Leser an dich ins Gefängnis geschickt. Und von den Solidaritätspostkarten, die MyPostcard kostenlos bereitgestellt hat, wurden bis zu deiner Freilassung mindestens noch mal 2.000 verschickt.
Yücel: Aber der Anstaltsleiter hat darauf beharrt, dass es nur drei Briefe für mich gebe. Daraufhin sagte ich ihm, dass die Briefe illegalerweise vernichtet worden seien. Hier laufe nichts illegal, erwiderte er. Schließlich habe ich ihm eine Strafanzeige angekündigt. Da hörten die Leute im Büro auf zu lächeln.
Akrap: Und haben sie dir die Briefe gegeben?
Yücel: Nein. Meine Anwälte gehen der Sache nach. Ich war ein letztes Mal wütend. Aber als ich vor das Gefängnistor trat, war das vorbei. Damit ist nichts vergessen und schon gar nicht vergeben. Aber meine Wut habe ich im Gefängnis gelassen. Ich glaube, auch gehört dazu, sich nicht fertigmachen zu lassen: nicht verbittert rauszukommen. Dann hätten die gewonnen.
Akrap: Für mich begann deine Freilassung am Vortag, am Donnerstag, dem 15. Februar. Da rief Daniel mich an und fragte, ob ich mal schnell in die Welt-Redaktion kommen könne. Dort lautete die erste Information: Deniz kann sofort das Gefängnis verlassen, aber er will nicht. Und ich habe etwas entgeistert gefragt: Warum denn nicht? Jetzt kann ich dich fragen.
Yücel: Natürlich wollte ich raus. Aber mir wurde gesagt, ich solle das Land mit einem Flugzeug der Bundesregierung verlassen. Das habe ich abgelehnt. Ich bin kein Angestellter der Bundesregierung, und kein deutscher Agent, den man ausfliegt. Nach einem Jahr Haft aus politischen Gründen wollte ich nicht als Spielball benutzt werden. Wenn Erdoğan sich etwas davon verspricht, mich einzubuchten, werde ich eingebuchtet. Und wenn er sich etwas davon verspricht, mich rauszulassen, dann soll ich wieder raus – und dazu soll ich nichts sagen? So lasse ich mit mir nicht umgehen.
Akrap: Sorry, aber das klingt etwas crazy.
Yücel: Es war ja nicht so: Entweder dieses Flugzeug oder lebenslang in diesem Loch. Mein Antrag vor dem türkischen Verfassungsgericht lief, ebenso das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und was sollte mir schon passieren? Mit Gefängnis konnte man mir nicht mehr drohen. Nach einem Jahr jagt dir das keine Angst mehr ein. Allerdings hat diese Furchtlosigkeit etwas Ambivalentes. Das ist mir im Gespräch mit Dilek bewusst geworden.
Mayatürk Yücel: Ich habe dir gesagt: Auch das ist eine Form, sich der Haft zu ergeben. Zu akzeptieren, dass du im Gefängnis bist und bleibst.
Böhmer: Der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım hatte am Mittwoch, dem Jahrestag deiner Festnahme am 14. Februar, im Interview mit der ARD gesagt, er hoffe auf deine baldige Freilassung.
Yücel: Ja. Aber dass sie mich dann so schnell freigelassen haben, ist beinah beängstigend. Da hat jemand offensichtlich auf Anweisung der Regierung gehandelt – und zwar nicht nur der Staatsanwalt, der dem Justizministerium unterstellt ist, sondern auch der Richter. Dieses Regime tut nicht einmal mehr so, als gäbe es eine Unabhängigkeit der Justiz. Ich denke, die haben das für eine freundliche Geste gehalten, an dem Tag, an dem Yıldırım zu Besuch in Deutschland war, meine Freilassung zu verkünden – ungefähr so, wie sie es beim G20-Gipfel Ende 2015 in Antalya für eine freundliche Geste gehalten haben, für jeden Staatsgast einen Bademantel herstellen zu lassen, mit dem jeweiligen Namensschriftzug und Nationalfahne auf der Brust. Dieser Staat ist in jeder Hinsicht kaputt – institutionell, moralisch, ästhetisch.
Böhmer: In oppositionellen Kreisen in der Türkei hieß es nach deiner Verhaftung vereinzelt, du seist privilegiert, weil hinter dir Angela Merkel gestanden habe, während andere verhaftete türkische Journalisten ohne diese Hilfe auskommen mussten.
Yücel: Dieser internationale Kontext war nicht nur ein Privileg, er hat mich auch besonders zur Zielscheibe gemacht. Das war der Grund, warum mich Tayyip Erdoğan mehrfach öffentlich angriff. Meine Verhaftung und meine Freilassung waren genauso politisch motiviert wie jene der Kollegen von der Cumhuriyet oder die lebenslangen Haftstrafen für Ahmet und Mehmet Altan und Nazlı Ilıcak.
Akrap: War es die Bedingung der Türkei, dass du mit einer deutschen Regierungsmaschine ausgeflogen wirst?
Yücel: Das weiß ich nicht. Das habe ich den deutschen Generalkonsul und dessen Stellvertreter auch gefragt, aber keine eindeutige Antwort bekommen. Die haben mir ausgerichtet: Du kannst sofort raus, aber es muss schnell und geräuschlos laufen. Das habe ich abgelehnt. So ist der Donnertag verstrichen. In der folgenden Nacht, meiner letzten im Gefängnis, habe ich wenig geschlafen. Am Freitagvormittag passierte nicht viel. Ich wurde zum Anwaltsgespräch gerufen, aber es war keiner meiner Verteidiger, sondern eine Anwältin aus Istanbul, die wie einige andere Juristen aus Solidarität Gefangene in Silivri besuchen. Auf dem Korridor traf ich meinen Cumhuriyet-Kollegen Ahmet Şık. Meine Freilassung lag ja in der Luft und Ahmet rief mir zu: „Das ist super! Mach das! Das kannst du benutzen!“
Akrap: Im Sinne von: Nutz die Chance, hier rauszukommen?
Yücel: Er meinte das im Sinne von: „Halte sie nicht auf, wenn sie sich blamieren wollen.“ In diesem Moment war das nur meine Interpretation, wir sahen uns ja nur kurz im Vorbeigehen. Inzwischen ist Ahmet aus der Untersuchungshaft raus. Als wir neulich miteinander sprachen, habe ihn danach gefragt. Er sagte: „Ich habe gemerkt, wie angespannt du warst. Aber die Art und Weise, wie sie dich freilassen wollten, hätte aller Welt gezeigt, wie es um das Rechtssystem in diesem Land bestellt ist. Ich dachte: Du solltest das offenlegen. Und das hast du mit deinem Video, das du nach deiner Entlassung veröffentlich hast, getan.“ Zurück zum Tag meiner Freilassung: Jedenfalls ging ich nach dem Gespräch mit der Anwältin zurück in meine Zelle. Kurz darauf kam eine Handvoll neuer Briefe von Dilek – sie hat mir haufenweise Briefe geschrieben, auf buntem Papier und in bunten Briefumschlägen, um etwas Farbe in meine Zelle zu bringen. Ich hatte gerade zu lesen angefangen, als diese Eilmeldung kam.
Akrap: Mit der Regierungsmaschine bist du schließlich nicht geflogen.
Yücel: Nein. Dilek überraschte mich noch vor dem Gefängnistor damit, dass die Welt so freundlich war, ein Privatflugzeug zu mieten, damit wir alle zusammen das Land verlassen. Ich glaube, meine Zeitung wollte aus Sicherheitsgründen, dass ich so schnell wie möglich wegfliege. Ich hätte damit keine Eile gehabt. Aber das Angebot, mit Dilek, euch beiden und unseren anderen Freunden, die zu meiner Begrüßung gekommen waren, in ein Flugzeug zu steigen, wie man sonst in ein Taxi steigt und sich zu einem Ziel unserer Wahl fliegen zu lassen – dieses Angebot hatte Charme. Aber ich wollte noch einmal in meine Wohnung. Unsere Katze holen. Und das Video aufnehmen, in dem ich meine Freilassung kommentiere. Geräuschlos wollte ich nicht gehen.
Böhmer: Als du aus dem Gefängnistor kamst, hattest du einen Strauß Petersilie für Dilek in der Hand. Hattest du den schon vorher in deiner Zelle?
Yücel: Petersilien habe ich immer als Raumschmuck im Knastladen gekauft. Und natürlich, weil sie mich an Dilek erinnert hat – die „Blume unserer Liebe“, wie Dilek sie seit unserem ersten Urlaub nannte, weil wir im Strandkorb immer so viel Petersilie dabeihatten.
Mayatürk Yücel: Dabei war das nur ein kleiner Witz beim Strandfrühstück.
Akrap: War euer Hochzeitsstrauß auch aus Petersilie?
Yücel: Das hatte ich eigentlich so geplant. Als Ersatz für Blumen. Also nahm ich einen Petersilienstengel. Als ich mich mit der Petersilie in der Hand aus der Zelle auf den Weg zur Trauung machte, hieß es: „Nein, das darfst du nicht.“ Das ist ein System, das darauf ausgerichtet ist, Lebensfreude zu nehmen. Darum ist es auch verboten, Fotos an die Wand zu hängen. Wir haben geheiratet und ich hatte keine Blumen, nicht mal Petersilie. Deswegen dachte ich bei meiner Entlassung: Das schulde ich Dilek.
Akrap: Was wäre passiert, wenn du Fotos von Dilek an die Wand gehängt hättest?
Yücel: Sie hätten sie abgerissen. Obwohl alles, was da reinkommt, mehrfach durchsucht wird, gibt es immer wieder Zellenrazzien. Psychoterror. So eine Zelle ist ja kein Lebensraum, den man sich selber aussucht. Trotzdem ist es dein Lebensraum, deine Privatsphäre. Alle paar Wochen kommt dann ein Trupp von zehn Leuten, die alles durchwühlen.
Böhmer: Die Welt-Redaktion musste im letzten Jahr immer wieder Mails mit derselben Frage beantworten – wie deine Kolumne gemeint sei, die du 2011 in der taz veröffentlicht hast: „Super, Deutschland schafft sich ab!“ gemeint sei. Da fragten Leute: Wie kann sich Herr Yücel jetzt von diesem Land rauspauken lassen, das sich seiner Meinung nach abschaffen sollte? Willst du selber antworten?
Yücel: Ich habe nie die Forderung gestellt, dass die Bundesregierung mich rausholt. Die Bundeskanzlerin, der Außenminister, der Generalkonsul und andere Angehörige der Bundesregierung haben sich für meine Freilassung eingesetzt, wofür ich sehr dankbar bin. Das hat aber auch der Flörsheimer Bürgermeister Michael Antenbrink getan. Oder türkische Oppositionspolitiker, die mich regelmäßig besucht und parlamentarische Anfragen zu meinem Fall gestellt haben.
Böhmer: Wie ist dieser Text aus dem Jahr 2011, über den gerade erst der Bundestag debattiert hat, eigentlich entstanden?
Yücel: Auf einer Redaktionskonferenz in der taz erzählte jemand, dass das Institut für Studien eine neue Studie zum Thema Geburtenrückgang veröffentlicht habe. Die Fachredakteurin antwortete: „Ach, wir hatten in der letzten Zeit so viel dazu, ich weiß gar nicht, was wir Neues sagen sollten.“ Darauf sagte ich aus Jux: Wir könnten es zur Abwechslung ja mal gut finden, wenn sich Deutschland abschafft. So bekam ich den Auftrag. In diesem Text – und der zugrundeliegenden Statistik – schaffen sich ja alle ab, auch die Neudeutschen. Und der Verfasser dieses Textes gehört dem Kollektiv an, das sich abschafft. Bei Hölderlin, Heine oder Tucholsky findet man Texte, die noch härter mit Deutschland ins Gericht gehen. Das hat nicht allein mit dem Nationalsozialismus zu tun, sondern ist viel älter. Das Hadern mit Deutschland ist deutsch, darum ist dieser Text auch deutsch. Übrigens ist es genauso deutsch, für einen „unverkrampften Umgang“ mit der Nation zu plädieren. Auch das macht kein anderer. Aber das blicken diese Klemmnazis von der AfD nicht. Die können ja kein Deutsch, die sind nur schwer dafür.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr