Demoverbot im öffentlichen Raum: Wie Protest trotzdem klappen kann
Durch Corona ist die Demokratie teilweise außer Kraft gesetzt. Doch Protest muss weiter möglich sein, nicht nur im digitalen Raum. Ein Gastkommentar.
Die Coronakrise erfasst nahezu alles, die Welt scheint aus den Fugen. Viele Medien titeln seit vier Wochen zu Corona, jeden Moment möchte man sich über die neuen Statistiken informieren. In den Köpfen und im Internet ist alles Corona.
Die leere Stadt hingegen wirkt surreal, wie eine Ausstellung. Wir schleichen uns schuldbewusst durch den öffentlichen Raum, beäugen einander gegenseitig. Die Begegnungen draußen erscheinen nicht legitim, stehen bleiben und sich unterhalten unangebracht, auch wenn nicht direkt verboten. Laut Corona-Verordnung, in Berlin genannt Eindämmungsverordnung, müssen Versammlungen unter freiem Himmel mit bis zu 20 Personen angemeldet werden, mehr als 20 Personen gehen gar nicht.
Für die Res publica im öffentlichen Raum, also das politische Mit- und Gegeneinander, ist die aktuelle Situation von kaum zu überschätzender Bedeutung. Vor zehn Tagen fand eine Demonstration mit etwa 200 Menschen am Kottbusser Tor statt, unter anderem gegen den Ausverkauf der Stadt und die inhumane Flüchtlingspolitik. Die Demonstrant*innen hielten den Pandemieabstand von 1,5 Metern ein. Doch die Demo musste, entsprechend der Berliner Eindämmungsverordnung, von der Polizei aufgelöst werden.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt dürfte vielen klar geworden sein, dass Corona nicht nur die individuellen Bewegungsfreiheiten beschränkt, sondern die Demokratie partiell außer Kraft gesetzt ist. Natürlich hat das nichts mit einem Polizeistaat zu tun. Dennoch kann sich jetzt jeder etwas besser vorstellen, wie es wäre, in einem solchen zu leben. Vielen Polizisten ist es – das sei betont – merklich unwohl dabei, Menschen auf Plätzen und in Parks wegzuschicken.
Florian Schmidt,
45, ist grüner Bezirksstadtrat für Bauen und Planen in Friedrichshain-Kreuzberg. Bundesweit bekannt wurde er durch seine bisweilen unkonventionellen Einsatz für die Rechte der MieterInnen, etwa durch die massive Anwendung des bezirklichen Vorkaufsrechts von Häusern.
Mittlerweile haben weitere politische Aktionen stattgefunden, die nicht genehmigt waren und von der Polizei aufgelöst wurden. Eine Aktion zur Flüchtlingspolitik, bei der letztlich nur Schuhe aufgestellt wurden, erscheint auf den ersten Blick unschädlich. Im Fall der Schuhdemo hat das Gericht das Verbot bestätigt. Doch die rechtliche Gemengelage wird sicher bald das Bundesverfassungsgericht beschäftigen.
Aufhorchen lässt auch die erste genehmigte politische Versammlung in Berlin: Der Künstler Rainer Opolka protestierte unweit des Kanzleramts gegen die strengen Einschränkungen der Coronakrise. Es kam eine weitere Person dazu. Auch Greta Thunberg war allein, als sie mit ihrem Schulstreik für das Klima begann. Ein Momentum, das erst im Nachhinein zu einem Mythos ihrer Persönlichkeit gerierte. Ein-Personen-Demonstrationen könnten in Coronazeiten Schule machen.
Neben all den Dramen, Ängsten, Anstrengungen und gravierenden Einschränkungen, die die Coronakrise mit sich bringt, findet zeitgleich ein riesiges Experiment statt: Wir erleben eine kompensierende Verlagerung des physischen Begegnens in den digitalen Raum. Und wir lernen schmerzlich, wie wichtig der reale öffentliche Raum und das Zusammenkommen sind, um Politik zu machen.
Ich selbst nehme an mehr politischen Treffen – online – teil, als es mir vorher möglich war, beispielsweise, weil ich abends aus familiären Gründen nicht das Haus verlassen konnte. Und viele werden sich jetzt erstmals mit Liquid-Democracy-Plattformen beschäftigen, auch wenn die Möglichkeiten schon länger bekannt sind. In Spanien haben die munizipalistischen Stadtregierungen und Parteien Softwaresysteme entwickelt, um Bürger*innen in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen.
Digitale Mitbestimmung und Kooperation könnte jetzt einen Boom erfahren, schlichtweg weil der Bedarf da ist, analoge Treffen schnell und unkompliziert zu ersetzen. Kommen digitale Methoden verstärkt zur Anwendung, werden Initiativen, Politik und Verwaltung anders miteinander kommunizieren: schneller, transparenter und verbindlicher. Wenn wir jetzt digitale Beteiligungsinfrastrukturen ausbauen, Ressourcen und Kompetenzen bündeln und uns in einer Art digitalen Stadtwerkstatt austauschen, können wir die gemeinwohlorientierte Stadt gemeinsam neu denken – und anpacken.
Digitale Formate müssen sich jedoch ihre Diskrepanzen bewahren. Es besteht ansonsten die Gefahr, dass die bereits bestehende Verkapselung der Öffentlichkeit im Netz in Suböffentlichkeiten und Bubbles weiter verschärft wird.
Kürzlich habe ich eine Arbeitsgruppe zum Thema Partizipation in Zeiten von Corona ins Leben gerufen. Zusammen mit Kooperationspartnern des Bezirksamts, die sich mit gemeinwohlorientiertem Neubau beschäftigen und Mieterinitiativen beraten, will ich herausfinden, wie Beteiligungsverfahren und Vernetzung ohne physische Zusammenkünfte funktionieren können.
Uns fiel auf, dass alte Kommunikationsformen wie postalische Briefe, Telefonieren oder Fernsehen in Kombination mit digitaler Kommunikation ein großes Potenzial haben, während die ausgefeilten Techniken der Liquid Democracy allein wenig weiterhelfen.
Wichtig ist der erlebbare Kontakt, den man über die Stimme und Bewegtbilder gut kompensieren kann. Ergebnis des großen Experiments könnte sein, dass sich einige digitale Infrastrukturen zur Aushandlung von politischen Entscheidungen besser eignen als manche Veranstaltung vor Ort, auf denen immer dieselben Leute zu Wort kommen.
Bei einer weiteren Online-Diskussionsrunde herrschte die Meinung vor, dass trotz Eindämmungsverordnung politische Aktionen unter freiem Himmel vorstellbar seien. Tausende Menschen könnten verteilt über die Stadt zum Joggen einen bestimmten Dresscode tragen, der zuvor im Netz als Symbol für ein politisches Anliegen bekannt gemacht wurde. Illegal sei dies wohl nicht, sofern dadurch nicht unnötige Gruppenbildungen provoziert würden, stimmte man überein.
Ein weiterer Aspekt wird immer häufiger diskutiert: Wenn es den Menschen zu eng wird auf dem Bürgersteig, werden sie koordiniert und mit Abstand die Straßen beanspruchen, sei es zur Fortbewegung oder um Sport zu machen. Genau diese Grenzüberschreitung empfahl kürzlich der Verband Fuss e. V.: Man solle lieber auf der Straße laufen, da es auf den Bürgersteigen häufig zu eng sei. Die Polizei widersprach postwendend mit Verweis auf die Straßenverkehrsordnung.
Der Bürger*innensteig und die Straße und die Grünanlage. Diese Zonen haben ihren festen Zweck. Nur wer eine Genehmigung (oder Findlinge) in petto hat, darf sie anders nutzen. Das galt bereits vor Corona. Doch je länger die Krise und die Ausgangsbeschränkungen andauern, desto mehr wird der öffentliche Raum unter Druck geraten. Uns stehen kreative und grenzüberschreitende Aktionen ins Haus, seien sie politischer Natur oder schlicht der Drang nach Flächengerechtigkeit, die Suche nach Bewegungsfreiraum, der Abstand ermöglicht.
Die Krise steht erst an ihrem Anfang, daher stelle ich nur eine Arbeitshypothese auf. Um die Coronazeit demokratisch zu überleben, braucht es neue Diskussions-, Aushandlungs- und Protestformate im digitalen und physischen öffentlichen Raum. Es braucht einerseits angstfreies Experimentieren, andererseits eine solidarische Umsetzung der Corona-Einschränkungen, ohne Wenn und Aber.
Dass Aufenthalt im öffentlichen Raum unter strenger Beobachtung steht, ist ein Stresstest für jeden* Einzelnen und das demokratische Gemeinwesen. Gute Konzepte, die unter Corona funktionieren, werden das öffentliche Leben nach Corona unweigerlich beeinflussen. Welche transformativen Potenziale die Res publica Corona hat und wie wir mit ihr souverän umgehen, muss zwingend im Hier und Jetzt gestaltet werden.
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