Demos gegen rechts: Fliehen oder kämpfen?
Für Migrant:innen war Rassismus schon vor den Deportationsplänen eine Bedrohung. Die Demos sollten ein Anstoß sein, ihn im Ansatz zu bekämpfen.
S eit der Aufdeckung rechtsextremer Geheimpläne zur Vertreibung und Deportation von Menschen aus Deutschland demonstrieren bundesweit Millionen Menschen gegen rechts. Unser Autor Cihan Sinanoğlu, Leiter des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors, ist einer von ihnen – er kritisiert die Verkürzung der Proteste auf Rechtsextremismus und plädiert für eine gerechte Sozialpolitik für alle.
Am Abend vor den Enthüllungen durch Correctiv saß ich mit Freund*innen beim Abendessen zusammen und wir diskutierten wie so oft über den Rechtsruck in unserem Land. Wir hatten das Gefühl, die Gesellschaft stehe wie ein erstarrtes Kaninchen vor der Schlange und warte angesichts der Wahlprognosen nur darauf, von der AfD überrannt zu werden. Der starke Rechtsruck lässt viele meiner Freund*innen mit Einwanderungsbiografien sogar über eine Auswanderung nachdenken. „Fliehen, bevor es zu spät ist“, hörte ich auch an diesem Abend wieder. Uns alle treibt die Tatenlosigkeit von Politik und Zivilgesellschaft um – und unsere Liste möglicher Gründe für das Ausbleiben von Widerstand wurde an diesem Abend lang: Ignoranz, Verdrängung, Coronamüdigkeit, Resignation, Angst.
ist Sozialwissenschaftler. Seit Oktober 2020 leitet er am DeZIM-Institut die Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors.
Und dann, am nächsten Tag, kamen die Enthüllungen des Netzwerks Correctiv – und plötzlich war er da, der Widerstand. Millionen Menschen gehen gerade auf die Straße, ein Querschnitt der Gesellschaft: Von Fridays for Future über Omas gegen rechts bis hin zu Kirchen und Gewerkschaften ist ein breites Bündnis entstanden. Mittlerweile haben sich fast 2.000 Organisationen und Initiativen dem Bündnis „Hand in Hand“ angeschlossen. Eine derartige Mobilisierung hat in Deutschland eine historische Dimension.
Verkürzung der Proteste auf Rechtsextremismus
Die Proteste sind richtig, wohltuend und wichtig, das sei zuallererst gesagt. Und dennoch haben sie einen blinden Fleck. Und dieser Fleck heißt Rassismus. Die meisten Proteste rufen auf zum „Kampf gegen rechts“, „gegen Rechtsextremismus“ und der „Verteidigung der Demokratie“. Es geht also nicht um eine konkrete Forderung, sondern lediglich um eine sehr allgemeine, sehr unanfechtbare Haltung. Menschen skandieren gemeinsam „Ganz Hamburg/Berlin/Göttingen hasst die AfD“ – eine Parole, die Rassismus eben nur dort verortet, bei der AfD. Das Problem: Rassismus ist nicht nur dort. Natürlich müssen Slogans immer verkürzen und vereinfachen, und breite Bündnisse müssen den kleinsten gemeinsamen Nenner finden – aber genau das macht es schwer, Forderungen zu stellen, die wirklich etwas bewirken.
Vielleicht sollte ich mich dennoch erst mal damit zufriedengeben, dass Millionen Menschen gegen rechts und gegen die AfD auf die Straße gehen. Wenn die Proteste ein paar Unentschiedene vom AfD-Wählen abbringen, wäre das schon ein Erfolg. Wenn sie bedrohten Menschen Mut machen, auch. Und wenn sie progressiven Kräften helfen, sich jetzt besser zu vernetzen, ist das auch wichtig für die kommenden Herausforderungen, die mit dem Rechtsruck in diesem Land einhergehen. Doch Zufriedenheit können wir uns im Moment nicht leisten. Denn Rassismus gibt es nicht nur bei der AfD.
Mir stellt sich die Frage, welche transformative Kraft entsteht oder besser gesagt: verloren geht, wenn das Problem nur einer Partei zugeschoben wird. Denn die Proteste werfen auch die Frage auf, in welcher Verantwortung die anderen Parteien für die plurale Demokratie stehen.
Wenn wir so tun, als wäre Rassismus nur an den Rändern unserer Gesellschaft zu finden, oder diesen gar mit Rechtsextremismus gleichsetzen, gerät er als soziales Verhältnis aus dem Blick, ebenso wie die ökonomischen und sozialen Bedingungen, unter denen er entsteht. Wenn Rassismus nur als Einstellung begriffen wird, wird suggeriert, es brauche für Antirassismus auch nicht mehr als die richtige Haltung. Aber so einfach ist es leider nicht: Die AfD zu hassen reicht eben nicht, um Antirassist zu sein. Denn dann wäre Antirassismus nur ein moralisch aufgeladener, leerer, performativer Akt. Doch Antirassismus ist immer auch Demokratiearbeit und muss eine Kritik sozialer Verhältnisse, wie der Arbeits- und Wohnverhältnisse und der Gesundheitsversorgung aller Menschen, beinhalten, sonst verändert er nichts, sondern erhält lediglich den Status quo aufrecht.
Übernahme rechter Rhetorik stärkt Rechtsextremismus
Was sich im Rahmen der Proteste nicht slogantauglich skandieren lässt, ist, dass die AfD, unterstützt von anderen Parteien, strukturelle Probleme wie steigende Mieten, die Unterversorgung bei Zahnärzt*innen, die Bildungsungerechtigkeit oder Kinderarmut auf die Frage der Migration reduziert und schiebt. Und die Probleme dadurch nicht als strukturelle benennt, sondern als Symptome der vermeintlichen „Überfremdung“ darstellt. Dabei wird keine einzige Abschiebung diese Probleme lösen. Hier könnten beispielsweise die Mietrechtsinitiativen, Initiativen aus dem Gesundheitsbereich und Kinderschutzorganisationen die Proteste unterstützen, indem sie die rassistischen Narrative angreifen und die strukturellen Probleme in den Vordergrund stellen.
Kurz gesagt: Die Proteste sollten sich nicht nur gegen Rechtsextremismus richten, sondern gegen Rassismus. Denn der kommt eben leider nicht nur von rechts. Dafür braucht es erstens konkrete politische Forderungen und ein Ausbrechen aus dem alleinigen Fokus auf Migration und zweitens sowohl den Druck auf und die Anbindung in die wichtigen politischen Institutionen wie Parteien und Parlamente. Ohne diese werden die Proteste wirkungslos bleiben, zumindest politisch. Weil sie zu performativ, zu hülsenhaft sind. Und dennoch machen sie mir Hoffnung, als Vorboten gesellschaftlicher Veränderungen, die schon längst überfällig sind.
Und so diskutierten meine Freunde und ich beim nächsten gemeinsamen Abendessen über die Frage: Warum gerade jetzt? Und warum erst jetzt? Es ist nicht so, dass die Pläne der AfD zur Remigration neu wären. Oder ihr Rassismus. Im Gegenteil sogar, die Partei trägt ihre Vorhaben und Ideologie regelmäßig in Öffentlichkeit und Parlamenten vor.
Vielleicht liegt es daran, dass Betroffenheit sich gerade neu sortiert. Ein Viertel der hier lebenden Menschen hat selbst einen sogenannten Migrationshintergrund. Die Zahl der Menschen, die inzwischen Migrationsbezüge durch Familie und Freundschaft haben, ist aber um ein Vielfaches höher. Sie alle wären, wenn auch auf unterschiedliche Weise, von den Remigrationsfantasien der Rassisten betroffen.
In der Studie „Rassistische Realitäten“ konnte gezeigt werden, dass ein Großteil dieser Gesellschaft bereits mit Rassismus in Berührung gekommen ist, sei es gegen sich selbst oder gegen Freunde, Familie, Bekannte. Rassismus ist längst kein Minderheiten- oder Randphänomen mehr. Die direkten und indirekten Erfahrungen mit Rassismus prägen das Leben der Menschen und damit die empfundene gesellschaftliche Relevanz für das Thema. Rassismus berührt und bewegt weite Teile der Bevölkerung. Solidarische, partnerschaftliche, familiäre, freundschaftliche und kollegiale Verbundenheit macht das Thema für alle bedeutend.
Die Proteste könnten sich also auch aus diesen postmigrantischen Verbindungen und Erfahrungen speisen und neue Formen des antirassistischen Widerstandes entwickeln. Solche, die konkret werden und die gesamtgesellschaftliche Betroffenheit von Migration und Rassismus ernsthaft zu bearbeiten vermögen und ein postmigrantisches Verständnis von Solidarität als Resultat hervorbringen. Oder einfacher gesagt: Wenn uns bewusst wird, dass wir alle betroffen sind, sind wir auch alle in der Pflicht. Nicht nur für ein „Nie wieder“, sondern vor allem für ein „Ab jetzt richtig“.
Wir brauchen eine gerechte Sozialpolitik für alle
Rassismus und Rechtsextremismus werden nicht allein durch ein Verbot der AfD verschwinden – obwohl ich ein solches Parteiverbot guthieße. Doch die Rechte wird sich neu formieren und organisieren. Wenn die anderen Parteien die AfD und ihr Gedankengut also nachhaltig politisch bekämpfen wollen, müssen sie klarstellen, dass nicht die Migration für soziale Probleme verantwortlich ist. Sondern die neoliberal ausgerichtete Politik der letzten 30 Jahre. Die effektivste Antirassismuspolitik wäre eine gute und gerechte Sozialpolitik für alle. Denn diese würde den Rassisten das Wasser abgraben, statt beim verzweifelten Blick auf die Umfragewerte, ihre Forderungen und Rhetoriken zu kopieren.
Es kann funktionieren – doch dafür braucht es mehr als engagierte BürgerInnen, die auf die Straße gehen und gegen rechts demonstrieren. Es braucht auch Parteien und Regierungen, die eine Vision einer gerechten und pluralen Migrationsgesellschaft entwickeln. Die anerkennen, dass wir alle direkt oder indirekt von Rassismus betroffen und auf unterschiedlichste Weisen mit der Migrationsgesellschaft verflochten sind. Die Migration als Chance begreifen, um unser Land zu modernisieren und zu demokratisieren.
Es kann funktionieren, das werde ich auch meinen Freund*innen beim nächsten Abendessen sagen. Denn selbst wenn ich den Impuls, momentan aus Deutschland fliehen zu wollen, gut nachvollziehen kann, darf dies nicht die Antwort auf den Rechtsruck sein. Die momentane kämpferische Grundhaltung in Deutschland macht Hoffnung auf Veränderung, doch die Proteste müssten jetzt weiter kanalisiert werden. Der Anfang ist gemacht.
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