Demokratieverständnis in Sachsen: Menschenbildung vernachlässigt
Politische Bildung wurde in sächsischen Schulen lange ignoriert. Nun wird mit sogenannten Demokratiemodulen gegengesteuert.
Besonders bewegt hat die Schüler die Frage nach der Berechtigung einer Notlüge. In welchen Fällen darf man flunkern? In jedem Fall finden sie es wichtig und richtig, dass in der Schule über die Regeln unseres Zusammenlebens diskutiert wird. Und zwar möglichst nicht im Frontalunterricht. „Wenn die Lehrerin nur erklärt, merkt man sich nicht so viel“, meint eine Schülerin. „In einem gespielten Stück ist man richtig in der Sache drin!“ Nur in der Frage, ob eine solche Unterrichtsform in den Regelstundenplan aufgenommen werden sollte oder ob zwei oder drei Projekttage im Jahr genügen würden, gehen die Meinungen auseinander.
Die von den Schülern benannte „Sache“ ist das erste Demokratiemodul „Wahrnehmung und Wahrheit“, das derzeit an 15 sächsischen Oberschulen erprobt wird. Die Oberschule ist die zehnklassige sächsische Realschule, an der bislang Gemeinschaftskunde erst ab Klasse 9 unterrichtet wird. Für Ethiklehrerin Schneider setzt das Modul Elemente des Ethikunterrichts fort.
Sie betont, dass man nicht bei null anfange und nach Kräften seit Jahren um die Erziehung von demokratiefähigen Menschen mit Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen bemüht sei. Neu sind freilich einige Formen. „Es ist immer eine interessante Bereicherung, wenn jemand von außen kommt – noch dazu in einer echten Richterrobe“, sagt Evelyn Schneider. Sie und ihre Schüler sind sozusagen Versuchskinder, nach jedem Projekttag gehen ausgefüllte Fragebögen an das Sächsische Bildungsinstitut.
„CDU-Linie gescheitert“
Ohne Zweifel: die politische Bildung erlebt gerade eine Renaissance an sächsischen Schulen, Überlegungen zu einem früheren Einsatz des Gemeinschaftskundeunterrichts eingeschlossen. Nach der Kritik von Wissenschaftlern und der Landtagsopposition räumt inzwischen auch das seit jeher CDU-geführte Kultusministerium Fehler der Vergangenheit ein.
„Politik sollte draußen bleiben – das war falsch“, sagt Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der TU Dresden. Ganz ähnlich klingt es bei Bildungspolitikerin Cornelia Falken von der Linken, aber auch bei ihrem Kollegen Henning Homann von der SPD, die seit 2014 wieder Koalitionspartner der Union ist. „Die CDU-Linie der politikfreien Räume in der Schule ist gescheitert“, urteilt er.
Frank Richter, ehemaliger Direktor der Landeszentrale für Politische Bildung, wurde beim Antrittsbesuch von Bundespräsident Steinmeier Mitte November noch deutlicher. Die „PISAisierung“ des sächsischen Bildungswesens, also die Dominanz der naturwissenschaftlichen MINT-Fächer, habe die Menschenbildung vernachlässigt, kritisierte er in einer öffentlichen Diskussion und erhielt damit starken Beifall.
„Lasst uns mit Politik in Ruhe“
Mittlerweile rennen die Kritiker offene Türen ein. Bela Belafi, früherer Chef der sächsischen Bildungsagentur und heute Referatsleiter im Ministerium, übt Selbstkritik. Jenes „Lasst uns mit Politik in Ruhe“ sei auch eine Reaktion auf die Indoktrination der Schule in der DDR gewesen, unternimmt er nur noch einen Erklärungsversuch. Wann das Umdenken einsetzte, wird verschieden datiert. Belafi nennt die alarmierende Wirkung des ersten Sachsen-Monitors 2016.
Die starke Spaltung bereits der 18–29-Jährigen in besonders fremden- und demokratiefeindliche und besonders weltoffene Gruppen fiel auf. Jeder vierte zeigte antisemitische Haltungen. Politikwissenschaftler Vorländer erinnert sich hingegen an die erste Kabinettssitzung nach der Blockade eines Flüchtlingsbusses in Clausnitz bereits im Februar 2016. Er selbst wurde als Berater von der Staatsregierung zu dieser Sitzung eingeladen, auf der es um Antworten durch politische Bildung ging.
Jedenfalls setzte die damalige Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) eine Expertenkommission ein, die im Sommer des vorigen Jahres unter dem Titel „W wie Werte“ 31 Handlungsempfehlungen formulierte. Bereits im März 2016 hatte die Ministerin mit einem Erlass zur politischen Bildung für eine Gewichtsverschiebung gesorgt. Die Einbeziehung juristischer Kompetenz gehört zu den Empfehlungen des neuen Wertekonzeptes. Allerdings lässt der Versuch, bei einem dieser Projekttage zur Erprobung des ersten Moduls zu hospitieren, auch die Schwierigkeiten bei dessen Umsetzung ahnen.
Sofortprogramm „W wie Werte“
In Sachsen kann die Unterrichtsversorgung kaum gesichert werden, Lehrer sind am Limit. Die Skepsis gegenüber einer weiteren zusätzlichen Aufgabe ist spürbar, gekoppelt mit rechtlichen Absicherungsängsten bei einem solchen Unterrichtsexperiment. Sehr wahrscheinlich werden solche praxisbezogenen Elemente ab dem kommenden Schuljahr in den Unterricht einbezogen werden.
Referatsleiter Bela Belafi im Kultusministerium bekräftigt noch einmal die Auffassung, dass sich gesellschaftliche Kontroversen auch in der Schule widerspiegeln müssen. Offen ist die Frage, ob der Gemeinschaftskundeunterricht in allen Schularten ab Klasse sieben eingeführt wird. Hinsichtlich der dafür nötigen Ressourcen zeigt sich Belafi optimistisch, wenn nur die Wichtigkeit politischer Bildung erkannt und akzeptiert sei.
„Eine neue Ausbalancierung der Stundentafel wird das System nicht überfordern“, prescht er vor. Als weitere Hilfe in dieser Richtung ist bereits ein Themenportal eingerichtet worden, das Materialien und außerschulische Partner vermittelt. Schüler sollen ihre eigenen Angelegenheiten mehr nach Regeln demokratischer Schulkultur vertreten und lösen. Auch die Fortbildung der Lehrer soll intensiviert werden, wobei die Frage der knappen Personalressourcen noch nicht gelöst ist. Daran scheitert derzeit beispielsweise die generelle Einführung einer Klassenleiterstunde.
Die Umsetzung des „W wie Werte“-Konzeptes ist Bestandteil des Sofortprogramms, das CDU und SPD mit dem Amtsantritt des neuen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer vereinbart haben. Das mahnen Wissenschaftler wie Hans Vorländer oder die Landtagsopposition aber auch an. Ginge es nach der Linken und ihrer Abgeordneten Cornelia Falken, würde ein neues Fach „Politische Bildung“ bereits ab Klasse fünf mit zwei Wochenstunden unterrichtet. So weit wollen auch neugierige Schüler nicht gehen, aber sogar verwöhnte Gymnasiasten kritisieren den viel zu späten Gemeinschaftskunde-Einstieg ab Klasse neun.
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