Dekolonisierung von Musik: Weg mit den pastoralen Idyllen
Während die Welt auf Pause gestellt ist, wacht der europäische Musikdiskurs auf – und hinterfragt das eigene koloniale Erbe.
D as Leben ist derzeit wie ein JG Ballard-Roman. Es findet im Inneren statt im Äußeren statt. Das ist anstrengend, aber eine gute Voraussetzung für ausgiebiges Nachdenken. Nicht nur über das das Innen, also das Ich, sondern vor allem das Außen, also die Kräfte, die ständig auf es einwirken, auseinandernehmen oder gar kaputt machen.
Oft ist nicht hilfreich, das Ich dann einfach wieder neu zusammensetzen im Geiste irgendeines Ordnungsideals. Es ist viel besser, den Defekt nicht zu verbergen. Bruchstellen können hilfreiche Mahnmale sein in einer Welt, in der Ordnungsliebe zu Machtmissbrauch, Pedanterie, oder Rassismus führt.
Um derartiges geht es am Samstag beim Launch der neuen Ausgabe des Archive Book-Magazins „Beyond Repair“. In Sound- und Musikperformances, DJ-Sets und Lesungen von u.a. Natascha Sadr Haghighian, post-Duo und Chiara Figone werden die Überwindung des Reparations-Narrativs verhandelt, aber auch neue Formen der Sebstorganisation und des Widerstands.
Verlernt und ganz neu gedacht werden muss dringend auch der Musik-Diskurs. Dass Musik im euro-amerikanischen Raum jahrelang unbeschwert als pastorale Idylle verkauft werden konnte, lag auch an der Kaschierung der kolonialen, weißgewaschenen Strukturen, die allen Genres bis heute innewohnen.
„Beyond Repair“: 24. 10., Reinickendorfer Straße 17, ab 19 Uhr
„Dice Festival“: 30. 10., Taborkirche, ab 16 Uhr
„Decolonizing Classical Musics?“:25. 10., Radialsystem, ab 13 Uhr
„Savvyzaar Radio“: 25. 10., 17 Uhr www.savvy-contemporary.com
„Kiezsalon“: 28. 10., Musikbrauerei, ab 19 Uhr
„Crys Cole & John Chantler“: KM 28, 29. 10, 19 Uhr
Der taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz.
Wie klingt dekolonisierte Klassik?
Dass Techno im Club derzeit weitgehend auf Pause gestellt ist, ist eine gute Möglichkeit, ihn als oft affektlose kommodofizierte Aneignung einer einst Schwarzen Musik zu entlarven. Wie sich die eigenen Privilegien und kulturellen Wurzeln hingegen respektvoll in Beziehung setzen lassen, zeigt etwa die Hamburger Musikerin Rosaceae aka Leyla Yenirce. Sie verschaltet harsche, elektroakustische Sounds mit Stimmen des politischen Widerstands und kurdischer Hochzeitsmusik.
Sie wird auf dem Berliner Dice Festival neben Lotic spielen, deren atonale Breakbeats und dialektische Klangwelten emanzipatorisches Potential für marginalisierte und alle anderen Körper evozieren, die sich die Räume, zu denen sie passen, erst noch schaffen müssen.
In perfekt passenden, also bruchstellenlosen Orte hat sich bis heute weitestehend auch die Klassische Musik eingerichtet. Themen wie kulturelle Aneignunsprozesse werden dort immer noch fast gar nicht verhandelt, obwohl sich bereits Komponisten wie Beethoven oder Debussy bei außereuropäischen Musiken bedienten.
Wie eine zeitgemäße, dekolonisierte Klassik aussehen könnte, die transtradtionell denkt, wird am Sonntag beim Symposium „Decolonizing Classical Musics?“ diskutiert. Zu Gast sind etwa die stets multimedial arbeitende Komponistin Brigitta Muntendorf, der Komponist und Medienkünstler Sandeep Bhagwati und der Musikwissenschaftler Kofi Agawu.
Neuverhandlung von Innen und Außen
Wer danach noch Energie hat, kann am Nachmittag Uhr bei Savvyzaar einschalten, dem Radio des Kunstraums Savvy Contemporary, der übrigens eine sehr gute Adresse für einen nachhaltigen Dekolonisierungs-Diskurs ist. In der Sendung „Sound as Divinity“ erzählt der mexikanische Komponist Luis Perez Ixoneztli von Musikinstrumenten, die in alten atztekischen Gräbern gefunden wurden und heutigen Musiker*innen neue musikalische Sprachen ermöglichen.
Mit neuen Sounds arbeitet die Musikerin Lucrecia Dalt seit jeher. In ihren vertrackten Stücken, die synthetische Klänge mit der eigenen Stimme verweben, entstehen teils psychedelische, teils hyperrealistische Welten. Beim Kiezsalon treffen sie auf den ironischen Synthiepop der Musikerin Agata Melnikova aka Signal Libra die in ihren schrillen Videos die Musikinstrumente nie wirklich bedient, sondern immer nur streichelt.
Intime Beziehungen zu ihren Tools pflegen auch John Chantler und Crys Cole. Sie performen jeweils solo im Neuköllner KM28 am Donnerstag im Neuköllner KM 28 performen. Während Chantler mit seinen Synthesizern und anderen Geräten unvorhergesehene Klänge erzeugt, entlockt Cole vermeintlichen Alltagsgegenständen außeralltägliche sonische Geschichten.
Die derzeitige Chance, das Innen und Außen neu zu verhandeln, ist also längst nicht nur auf Menschen beschränkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl