Debütfilm „Are You Lonesome Tonight?“: Die Kuh des Schicksals
In seinem Debütfilm „Are You Lonesome Tonight?“ malt der chinesische Regisseur Wen Shipei mit bunten Farben. Sein Sittenbild gerät weniger farbig.
Wege, die sich gabeln, sind das Bild für Lebensentscheidungen schlechthin, Straßen, die man nimmt oder eben nicht nimmt. Um sie im Film interessant zu gestalten, muss im Zweifel etwas hinzukommen, auch wenig Wahrscheinliches kann helfen.
Für sein Spielfilmdebüt „Are You Lonesome Tonight?“ hat der chinesische Regisseur Wen Shipei eine Idee gehabt, die als Umweg schon ans Dämliche grenzt, in ihrer Banalität aber umso überzeugender wirkt. Bei ihm ist der Grund für eine folgenreiche Kursänderung des Protagonisten eine Kuh. Sie gibt den Anstoß für einen Thriller um Verbrechen und Strafe, den Wen Shipei in kräftigen Farben ausmalt, bevorzugt in Rot und Grün.
Der Haustechniker Xueming (Eddie Peng) ist eines Abends mit seiner Freundin verabredet fürs Kino. Sie mahnt ihn am Telefon, pünktlich zu sein, denn sie würde nicht auf ihn warten. Als er mit dem Auto losfährt, liegt unterwegs besagte Kuh mitten auf der Straße. Er hupt, sie rührt sich nicht. Schließlich wählt er einen Umweg, am Fluss entlang. Beim Anzünden einer Zigarette achtet er kurz nicht auf die Straße, es knallt, er bremst, steigt aus. Und fährt wieder los. Dabei wird am Fahrbahnrand hinter dem Auto ein männlicher Körper sichtbar, leblos, blutig.
Das Unglück geschieht im Jahr 1997, wie eine beiläufig eingeblendete Zahl kurz vor der Kollision zu Protokoll gibt. Es ist eine Rückblende, die Handlung des Films setzt später ein. Da sitzt Xueming im Gefängnis. Aus dem Off erzählt er, wie man während der Haft immer weniger deutlich weiß, warum man seine Strafe abbüßt, bis man es ganz vergessen hat, sodass man bei seiner Entlassung neu beginnen kann. Wie lang diese Zeit bei Xueming dauern wird, verrät der Film am Ende.
„Are You Lonesome Tonight?“ Regie: Wen Shipei. Mit Eddie Peng, Sylvia Chang u. a. China 2021, 95 Min.
Fragen von Moral und Schuld interessieren Wen Shipei insbesondere bei diesem modernen Film noir, wobei die farblichen Kontraste seiner Bildkompositionen keinesfalls auf einen gleichfalls klar gesetzten Gegensatz von Gut und Böse hindeuten. Die Werte, nach denen seine Figuren handeln, kennen bestenfalls unterschiedliche Grauschattierungen. Was für die „echten“ Kriminellen ebenso gilt wie für die „rechtschaffenen“ Bürger.
Existenzielle Wendungen
Xueming kämpft nach dem Unfall mit seinem Gewissen, er geht zur Polizei, will sich stellen, überlegt es sich dann, als er dort zunächst warten muss, doch anders. Fast immer sind es solche kleinen Zufälle, die Wen Shipei als Initiale für existenzielle Wendungen nutzt. So findet Xueming beim Warten an einem Obststand heraus, wer die Witwe des Unfallopfers ist. Frau Liang (Sylvia Chang), so ihr Name, steht da unvermittelt neben ihm, in der Hand Suchplakate mit dem Konterfei ihres vermissten Mannes. Xueming folgt ihr bis zu ihrer Wohnung, klingelt, fingiert eine Reparatur an ihrer Klimaanlage.
Die beiden lernen sich kennen, freunden sich ein wenig an. Dabei will er ihr eigentlich gestehen, dass er ihren Mann überfahren hat. Dass die Sache im Fall des Toten komplizierter ist, verrät Wen Shipei erst nach und nach. Überhaupt behandelt er Informationen als knappes Gut. Gesprochen wird kaum, wichtige Details einzelner Szenen folgen gern verzögert. Dazu dienen ihm beim Erzählen die vielen Rückblenden, die er in leicht unübersichtlicher Form verschachtelt.
Ein wenig Konzentration ist nötig, um folgen zu können und zu erkennen, in welchem genauen Moment die Szene gerade spielt. Auf diese Weise scheint Wen Shipei ein bisschen das schrittweise Arbeiten des Gedächtnisses zu illustrieren, bei dem es etwa passieren kann, dass einem die Einzelheiten eines Ereignisses unvermittelt im Verlauf des Erzählens wieder einfallen. Für Xuemings Geschichte bedeutet dies vor allem, dass er sich mit jedem zusätzlichen Schritt in eine Halbwelt verstrickt, ohne es anfangs recht zu merken. Irgendwann kauft er sich eine Waffe.
Gesellschaft Chinas im Umbruch
Die leicht desorientierende Wirkung dieses Hin und Hers passt wiederum zum Sittenbild, dass Wen Shipei vom China der späten Neunziger zeichnet. In erweiterter Perspektive deutet das Jahr 1997 auf das Ende der Souveränität Hongkongs hin, mit verheerenden Folgen für die demokratische Entwicklung der Insel.
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Trailer „Are You Lonesome Tonight?“
Auch die Gesellschaft Chinas insgesamt scheint bei Wen Shipei im Umbruch. So zeigt er in einer Szene scheinbar zusammenhanglos die Fernsehübertragung des Vortrags eines chinesischen Wissenschaftlers oder Politikers, der sich – unter Rückgriff auf Darwins Evolutionstheorie und die Trieblehre Freuds – gegen „unser falsches Verständnis von Würde“ ausspricht.
Wen Shipeis eigene Haltung dazu bleibt ambivalent. Wenn man allerdings bedenkt, dass chinesische Philosophen mitunter nicht davor zurückschrecken, Ethiker wie Kant zu missbrauchen, um die Universalität der Menschenrechte zu bestreiten, bleibt allemal ein Unbehagen. Ungeachtet der Kraft seiner Grundfarbenmalerei.
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