piwik no script img

Debatte ums Turbo-Abi in HamburgMehr Zeit für Gymnasiasten?

Kommentar von Sammar Rath und Torsten Schütt

In Hamburg sammeln Eltern Unterschriften dafür, das Abitur an Gymnasien wieder nach neun Jahren zu machen, statt nach acht. Ein Pro- und Contra.

Am Ende sieht die Prüfung gleich aus. Aber wie viele Schuljahre sollten dem Abi vorangehen? Foto: Felix Kästle/dpa

Ja, Hamburgs Gymnasien sollten zu G9 zurückkehren

Das Ziel der Schulzeitverkürzung war ein rein ökonomisches: Schülerinnen und Schüler sollten ein Jahr früher ihre Ausbildung oder ihr Studium beginnen und entsprechend früher Steuern und Sozialabgaben zahlen. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegt. Jugendliche, die unter G8 Abitur machten, nehmen etwas seltener ein Studium auf, brechen es häufiger ab und wechseln häufiger das Studienfach oder legen eine Pause ein.

In den meisten alten Bundesländern führte das zu einem Umdenken und einer Rückkehr zu G9. Obwohl also das Ziel verfehlt wurde, schweigt die Bildungspolitik in Hamburg. Der Schulfrieden, der 2010 beschlossen worden ist, wurde ohne Einbindung der betroffenen Gremien um weitere fünf Jahre verlängert. Das blockiert nun jede kritische Reflexion des G8-Projektes. Und dass, obwohl Hamburgs Schulsenator seine Versprechen wie die Reduzierung von Unterrichtsausfall nicht hielt. Also fragen wir: Was ist der Schulfrieden wert? Und warum wird das Projekt G8 nicht an seinem Ziel gemessen und der Kurs korrigiert?

Bild: privat
Sammar Rath

46, ist Mutter von drei Schulkindern und Vertrauensperson der Volksinitiative „G9 Hamburg“.

Unsere Initiative steht für 60.000 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Das Festhalten an G8 verkennt die Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht. Anstatt über die mutmaßliche und politisch befeuerte Furcht – der theoretischen Schwächung der Stadtteilschule – zu sprechen, sollten wir uns erinnern, dass es nicht um Konzepte und Strukturen geht, die politisch geschützt werden wollen, sondern um das Kind.

Die Motivation, an G8 festzuhalten, ist rein politischer Natur und geht an den emotionalen und intellektuellen Bedürfnissen der Jugend vorbei. Der Stress und die psychische Belastung steigen durch das Turbo-­Abitur, wie neuere Studien belegen. Das Reifezeugnis muss wieder zu einer fundierten Hochschulreife ohne Qualitätsverlust führen. Mehr Raum für forschenden, analytischen und fundierten Wissenserwerb und vor allem für soziale und psychische Reife sind nötig, um den Stoff nachhaltig zu durchdringen. Eine Flexibilisierung der Oberstufe, mehr Mitbestimmung der Schülerschaft über die eigene Lerndauer wären ein moderner Ansatz. Wir fordern die Hamburger Bildungspolitik auf, unter Einbindung der Gremien mit Kreativität und politischem Know-how moderne Konzepte für das Gymnasium zu entwickeln.

Natürlich müssen die Gymnasien mehr Verantwortung tragen bei der Integration von Geflüchteten und Inklusion. Denn als Gesellschaft sind wir politisch und moralisch verpflichtet, die Zukunft künftiger Generationen bestmöglich zu gestalten.

Wir fordern hier eine schnelle Umsetzung, denn je länger wir zögern, desto mehr Kinder bleiben auf der Strecke. Viele Kinder spüren noch die Auswirkungen der Coronazeit und sind von Stundenausfall und Lehrermangel betroffen. Hier könnte eine flexible Oberstufe, die Möglichkeit, Klassenstufen zu wiederholen, und der erleichterte Wechsel zwischen den Schulformen dem individuellen Lernen gerecht werden.

Das Rad muss nicht neu erfunden werden, denn fast alle anderen Bundesländer, die G8 einführten, kehrten zu G9 zurück. Sobald die ersten Jahrgänge fertig sind, wird die Mehrheit der Schüler und Schülerinnen in Deutschland ein G9-Abitur ablegen. Erst dann werden die Konsequenzen des Festhaltens an der G8-Reform in Hamburg spürbar sein. Parallel dazu wird die von den Kultusministern geforderte Angleichung des Abiturs die Lage der Hamburger Gymnasien noch verschärfen, denn wie sollen die neuen Fächer und Lehrinhalte in acht statt in neun Jahre gepresst werden? Wollen wir hier nicht noch rechtzeitig das Ruder in die Hand nehmen, anstatt uns treiben zu lassen? Sammar Rath

Nein, Hamburgs Gymnasien sollten bei G8 bleiben

Die Forderung der Volksinitiative „G9 Hamburg“ nach „Mehr Zeit zum Lernen“ fürs Abitur unterstützt zwar grundsätzlich jeder, so auch ich. Aber diese Zeit gibt es in Hamburg bereits – an den Stadtteilschulen. Deshalb ist eine Ausweitung der Lernzeit für das Abitur an Gymnasien von acht Jahren (G8) auf neun Jahre (G9) zunächst einmal unnötig. Sie ist darüber hinaus auch teuer, schwer umsetzbar und anscheinend für die meisten Schüler und Schülerinnen nicht wirklich attraktiv.

Bild: privat
Torsten Schütt

60, ist selbstständiger Personalberater, Vater von fünf Kindern und Sprecher der Gemeinschaft der Elternräte an Stadtteilschulen.

Allein die Kosten, die für den Umbau von Gebäuden anfallen, weil ein zusätzlicher Jahrgang zusätzliche Räume bräuchte, belaufen sich auf rund 300 Millionen Euro. Und dabei sind Raumbedarfe für inklusive und integrative Ansätze an Gymnasien noch gar nicht einkalkuliert.

Schlimmer: Inklusive und integrative Ansätze werden im Wortsinn sogar auf lange Sicht verbaut, weil enge Klassenzimmer und fehlende Nebenräume diese gar nicht mehr zulassen würden. Bei diesen Einmalkosten, die 20 Prozent eines Schulhaushaltsjahres ausmachen, sind die zusätzlichen jährlichen Kosten für Personal und Energieversorgung noch gar nicht berücksichtigt.

Doch selbst wenn genügend Geld da wäre, was in Hamburg bei einem ständig angespannten Haushalt unwahrscheinlich erscheint, ist G9 nicht machbar, weil dafür die Fachkräfte fehlen. Woher bitte sollen in Zeiten des Personalmangels die zusätzlich benötigten Lehrkräfte, Sonderpädagogen, Beratungslehrer und Sozialpädagoginnen kommen?

Schon heute sind in Hamburg für das Schuljahr 2023/2024 mehr als 500 Stellen allein für Lehrkräfte nicht besetzt. Darüber hinaus gehen in den kommenden zehn Jahren die „Baby-Boomer-Lehrer“ in Rente – und gleichzeitig werden knapp zehn Prozent mehr Schülerinnen und Schüler an die Schulen kommen. Vor diesem Hintergrund ist es herausfordernd genug, diese absehbaren Entwicklungen zu stemmen. „Sonderlocken“ wie ein G9 an Gymnasien verschärfen die Situation nur unnötig.

Zumal das G9 als Option nur für eine Minderheit der Absolventen und Absolventinnen der gymnasialen 10. Klasse attraktiv zu sein scheint. Sie könnten nämlich zur Stadtteilschule wechseln und dort die dreijährige Oberstufe besuchen. Doch die allermeisten – mehr als 92 Prozent von ihnen – nutzen das nicht und besuchen die Sekundarstufe II auf dem Gymnasium. Die große Mehrheit entscheidet sich also für das schnellere G8. Und sie erzielen sehr gute Ergebnisse. So war im Schuljahr 2022/2023 der Hamburger Schnitt 2,22 – welcher deutschlandweit im oberen Drittel liegt. Die G9-Initiative will diese Mehrheit bevormunden, indem sie das von den Schülerinnen und Schülern bevorzugte Modell abschafft.

taz Salon zum Turbo-Abi​ ​

Der taz Salon lädt am 14. November unter dem Titel „Mehr Zeit fürs Gymnasium?“ zu einer Diskussion über das Turbo-Abitur. Der Beginn ist um 19.30 Uhr in der Fabrique im Gängeviertel, Valentinskamp 34a, Hamburg. Weitere Informationen gibt es hier.

Unterm Strich spricht nichts für G9 am Gymnasium. Denn es gibt signifikante Einmalkosten und zusätzliche Personalkosten, und dass bei fehlenden Lehrkräften und mangelnder Nachfrage seitens der Schüler und Schülerinnen. Auf der anderen Seite gibt es ein G9-Angebot an den Stadtteilschulen, in dem „Mehr Zeit zum Lernen“ seit Jahren akzeptiert, bewährt und für alle möglich ist.

In Zeiten enormer schulpolitischer und gesellschaftspolitischer Herausforderungen müssen wir eine Vielzahl von Problemen und Aufgaben zeitnah lösen. Hierzu zählen die Integration, die Inklusion und die Digitalisierung, wo wir uns teilweise noch in den ersten Ansätzen befinden. Diese Bereiche benötigen aktuell all unsere Kräfte und Ressourcen. Daher bleibe ich dabei: G8 an Gymnasium, G9 an Stadtteilschulen. Torsten Schütt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Die Gymnasien und Stadteilschulen in Hamburg unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Die Stadtteilschule ist aus den Haupt-, Real- und Gesamtschulen und den Aufbaugymnasien hervorgegangen und bietet alle Schulabschlüsse bis zum Abitur, das identisch mit dem Abschluss am Gymnasium ist. Der wichtigste Unterschied ist: In der Stadtteilschule lernen alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam, während die Gymnasien eine Selektion durchführen und nur die Schülerinnen und Schüler aufnehmen, die den Anforderungen gerecht werden.



    Eine weitere Unterscheidung ist, dass die Gymnasien in Hamburg in der Regel ein höheres Anforderungsniveau haben als die Stadtteilschulen. Die Gymnasien vermitteln ein breiteres Wissen und bereiten die Schülerinnen und Schüler auf ein Studium vor, während die Stadtteilschulen eher auf eine berufliche Laufbahn abzielen.



    Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Unterschiede zwischen den beiden Schulformen nicht so groß sind, wie sie einmal waren. Seit der Einführung des zweigliedrigen Schulsystems in Hamburg gibt es nur noch die Stadtteilschule und das Gymnasium. Die Stadtteilschule hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt und bietet mittlerweile ein breites Spektrum an Kursen und Fächern an, die den Schülerinnen und Schülern eine ähnliche Bildung wie am Gymnasium ermöglichen.



    Es ist unwahrscheinlich, dass eine Rückkehr zu G9 die Unterschiede zwischen den beiden Schulformen verringern würde. Die Stadtteilschule und das Gymnasium haben unterschiedliche Ziele und Schwerpunkte, die sich nicht einfach durch eine Verlängerung der Schulzeit ändern lassen.

  • Interessant, dass die Kontrameinung praktisch nur auf Geld und Kurzfristigkeit abzielt.



    Dabei ist eine gute (Schul)bildung der Schlüssel zu so vielem.

    Fragen, die man stellen muss, wenn man mittel- und langfristig die Bildung verbessern will:



    Wie macht man den Beruf des Lehrers wieder attraktiv?



    Wie verbessert man das grundlegende Wissen für Schulabschliesser?



    Wie nimmt man die Belastung für Heranwachsende etwas heraus? Teenies befinden sich nun mal in einer Zeit des allgemeinen Umbruchs im Leben und es ist wichtig, dass sie dafür auch die Zeit bekommen, die sie brauchen.

    Sinnvolle Investitionen in das Bildungssystem sind die beste Möglichkeit, in die Zukunft zu investieren. Das freut die Schüler, weil sie dann mehr Möglichkeiten haben in Sachen Ausbildung und Studium, es freut die Arbeitgeber, weil sie Azubis oder Berufsanfängern nicht erst richtig lesen, schreiben und Kopfrechnen beibringen müssen, es freut die Finanzämter, die durch mehr gut gebildete Menschen in besser bezahlten Jobs mehr Steuern einnehmen können, das freut dann alle, weil man wieder mehr investieren kann...