Debatte um eine Zwangsinstitution: Gar keine Schule
Eine Gruppe Hamburger Eltern stellt die Schulpflicht infrage. Sie sagen, die Schule mache ihre Kinder krank. Sie wollen, dass Zuhauselernen erlaubt wird.
Peter Schneider* hat selbst Lehramt studiert. „Ich sage, lasst euch nicht vom ,Fachpersonal’ erzählen, was für euren Nachwuchs gut ist und hört wieder auf euren gesunden Menschenverstand“, rät er anderen Eltern. Seine Tochter Isabella* hatte schon in der Grundschule Angst vor der Lehrerin, es gab zu viele Lehrerwechsel.
Auf der Waldorfschule lief es auch nicht gut, „sie wurde fortwährend geärgert“, berichtet Schneider. Er und seine Frau nahmen Isabella von der Schule und gingen zum Beratungszentrum der Schulbehörde, wo man sie einem Test unterzog. Das Ergebnis: Das Mädchen hat eine Teilhochbegabung und ist hochsensibel. „Die sagten, das Kind muss aufs Gymnasium.“
Dort gab es zunächst gute Zensuren. Aber dann hatte Isabella „Blackouts“ bei den Arbeiten und schrieb Fünfen. Die Sache schaukelt sich hoch. „Sie hatte keine Zeit mehr für die Dinge, die ihr Freude bereiteten“, sagt Schneider. Die Cello-Gruppe und der Sportkurs am Nachmittag mussten ausfallen. Isabella stritt sich mit ihrer besten Freundin, in der Schule wurde sie bestraft, sie hatte Albträume und konnte nachts nicht mehr schlafen. Der Kinderarzt schrieb sie krank. „Da lag sie erst mal sechs Wochen nur erschöpft auf dem Sofa“, sagt der Vater.
Die Eltern suchten wieder Unterstützung beim Beratungszentrum der Schulbehörde, wandten sich ans Jugendamt. Isabella wurde jetzt einer Stadtteilschule zugewiesen und sollte in der Ambulanz einer Jugendpsychiatrie für den Schulbesuch fit gemacht werden. „Aber da wollte sie nach einem Testtag nicht bleiben und von da ab auch auf keinen Fall mehr zur Schule“, sagt Peter Schneider. „Nirgendwo bekamen wir wirklich Hilfe.“
Astrid Lerche, „Frei sich bilden“
Inzwischen war das Kind ein halbes Jahr krank geschrieben. Und in Deutschland herrscht Schulpflicht. Den Schneiders wurde klar: Wollen sie ihr Kind zu Hause bilden, bleibt nur der Weg ins Ausland, wie ihn Vorkämpferin Dagmar Neubronner in ihrem Buch beschrieben hat.
In Österreich ist es möglich, seine Kinder zu Hause zu unterrichten. Die Schneiders zogen um, meldeten ihre Tochter bei der amerikanischen Fernschule „Clonlara“ an, die ein Programm entwickelt hat, um „freies, eigenverantwortliches Lernen zu unterstützen“, wie Schneider sagt. „Das läuft gut und macht richtig Spaß.“ Mal lesen sie gemeinsam alles über Gandhi, ein andermal baut Isabella aus Pappe voll funktionsfähige Maschinen. Clonlara gibt nicht streng einen Lehrplan vor, sondern unterstützt die Kinder bei ihren Projekten.
Doch zum Schuljahresende verlangt die Behörde in Österreich eine „Externistenprüfung“ durch den Staat. „Das bedeutet wieder ,Bulimielernen’ für eine Prüfung, obwohl wissenschaftliche Studien doch belegen, dass das eingelernte Wissen schnell wieder vergessen wird“, sagt Peter Schneider. Das wollen die Eltern für ihre Tochter nicht mehr, die sich zunehmend in den Bergen wohl fühlt, Ski läuft, dort viele Freunde hat, Cello spielt, in die Bibliothek geht und aus sich heraus mit Stoff der Oberstufe beschäftigt. „Da ohne diese Prüfung auch in Österreich die Zuhauselernenden wieder zur Schule müssen, haben wir uns reisend gemeldet. Das ist auf Dauer kein Zustand“, sagt Peter Schneider.
In Hamburg kann sie bis 14 Uhr nicht vor die Tür
Zurzeit sind Frau und Kind im Ausland. Wenn sie in Hamburg sind, kann das Mädchen bis 14 Uhr nicht vor die Tür. Zu groß ist die Sorge vor Entdeckung. Außerdem gibt es in der Stadt wegen der Ganztagsschulen tagsüber keine anderen Bildungsangebote für junge Menschen.
Wahrscheinlich zieht die Familie bald nach Südeuropa, „gezwungenermaßen“, wie Schneider sagt: in ein Land, das das freie Lernen erlaubt. In Sachsen haben Eltern erreicht, dass das Jugendamt diese Lernform toleriert. „Es wäre toll, wenn Hamburg das auch macht. Damit die Kinder morgens raus können und betroffene Familien ohne Angst vor Verfolgung in ihrem Heimatland bleiben können“.
In Hamburg sollen mehrere Dutzend Akademikereltern so verfahren und „wahnsinnige Angst vor Outing haben“, erzählt eine taz-Leserin, die sich in der Redaktion meldet. Sie vermittelt den Kontakt zu zwei Müttern. Auch diese haben ihre Kinder zunächst zur Schule geschickt. Aber die Kinder wurden oft krank und wollten nicht hin. „Mein Sohn war immer lernbegierig und hat sich auf die Schule gefreut“, sagt Astrid Lerche*.
Doch schon in der Grundschule sei er empört gewesen, dass man ihm seine Zeit klaut. Und auf dem Gymnasium sei er „immer kränker“ geworden, berichtet die Mutter. Er wechselte zur Stadtteilschule, dort seien die Lehrer dann freundlicher gewesen. „Aber ich konnte meinen Sohn nicht bewegen, zur Schule zu gehen“, berichtet Lerche. Auch ihr Kind ist laut einem Test hochbegabt.
Sie sei immer unter Druck und in einer „Vermittlerrolle“ gewesen, berichtet Lerche. Gegen Ende von Klasse 8 kam ihr Sohn sogar für einige Wochen in die Psychiatrie. „Danach sagte er mir: ‚Ich bin doch gar nicht krank, Mama. Ich will nur nicht zur Schule.‘ Da ist bei mir der letzte Schleier gefallen“, sagt Lerche. Ab da habe sie sich entschlossen, ihren Sohn zu unterstützen.
Er schrieb einen Brief an Schule und Schulbehörde, dass er sich selbst bilden will. „Er schrieb: Er sieht in der Schule seine Würde verletzt, weil er Dinge lernen muss, die er sich nicht ausgesucht hat“, berichtet Lerche. Ihr Sohn lernte ein halbes Jahr zu Hause, mit Lerntagebuch. Das Resultat: Der 14-Jährige bekam einen Bußgeldbescheid über 103 Euro.
Lerche hatte schon mit einem „Absentismusverfahren“ gerechnet und sich deshalb proaktiv ans Jugendamt gewandt. Das wusste sogar guten Rat und empfahl ein Jugendhilfeprojekt, wo ihr Sohn ohne täglichen Schulbesuch seine Abschlüsse machen kann. „Dort ist er zum ersten Mal auf Augenhöhe angeschaut worden“, sagt die Mutter. „Solche Projekte müsste es viel mehr geben.“ Inzwischen ist der Junge 16 und hat mit einer externen Prüfung seinen ersten Schulabschluss geschafft.
Beatrice Schraders* Sohn wurde in der Schule sogar ernsthaft krank. „Es gibt viele hochsensible Kinder, die mit den vielen Reizen in der Klasse nicht umgehen können“, sagt sie. Ihr Sohn sei in der Schule blass und antriebslos gewesen, habe einen Virus nach dem nächsten gehabt. „Ich habe ihn nicht ohne Bauchschmerzen in die Schule gekriegt“, berichtet sie. „Er sagte eines Tages, er wäre lieber tot als noch mal zur Schule zu müssen.“ Der Stress habe seinem Körper zugesetzt, das habe ihr auch ein Arzt attestiert, sagt Schrader. Seit drei Jahren versucht sie nun, eine Lösung zu finden. Ihr Wunsch: eine Lockerung der Schulpflicht.
Alle drei Mütter sind Mitstreiterinnen der Initiative „Frei sich bilden“ in Hamburg, die etwa 30 Mitglieder hat und sogar im Oktober schon in der Hamburger Elternkammer vorsprach. Dort sorgte das prompt für einen Disput. Die Sprecherin der Initiative, Tanja Gwiasda, sagt: „Wir merken, dass wir, wo immer wir vorsprechen, mit der Strukturkritik anscheinend an einem großen Tabuthema rütteln.“
In Hamburg gilt verschärfter Schulzwang
Schulpflicht ist nach landläufiger Meinung sehr wichtig für Kinder und den Zusammenhalt der Gesellschaft. In Hamburg gibt es seit 2005 sogar einen verschärften „Schulzwang“ nach bayerischem Vorbild. Fehlt ein Kind in der Schule, wird das Jugendamt informiert. Das ist eine Lehre aus dem grausamen Schicksal der kleinen Jessica, die in der Wohnung ihrer Eltern verhungerte. Ein Mitarbeiter der Schulbehörde hatte vor ihrer Einschulung an der Tür geklingelt, aber nicht das Jugendamt informiert, als er keinen erreichte.
Seit diesem tragischen Fall gibt es einen Schulzwang-Paragrafen und eine detaillierte Handreichung für Schulen, wie sie mit fehlenden Kinder umzugehen haben, wann Entschuldigungen der Eltern infrage zu stellen sind, wann es Bußgeld gibt, wann Zwangsgeld oder sogar bis zu sechs Wochen Erzwingungshaft für die Eltern.
Befreit von der Schulpflicht sind kranke Kinder, für die es Haus- und Krankenunterricht gibt. „Es geht nur über Störung“, kritisiert Beatrice Schrader. Die Eltern der Initiative „Frei sich bilden“ sehen ihre Kinder aber nicht als krank an. Und sie wollen ihnen beistehen, ohne in die Illegalität fliehen zu müssen.
Das Problem, glaubt Tanja Gwiasda, sei, dass es keine Alternative gibt. „Weil die Schule ein Bildungsmonopol hat, ist sie nicht gezwungen, für jedes Kind ein guter Ort zu sein.“ Der Ausbau der Ganztagsschule habe die Situation noch verschärft.
In der Schule sei Bildung zudem einer „Leistungs- und Verwertungslogik“ unterstellt, meint Gwiasda. Dazu komme die Einführung der Kompetenzorientierung: Die Fähigkeiten der Kinder werden nun in Kompetenzraster aufgeteilt, jedes halbe Jahr soll ein Kind sich selbst einschätzen und seine Ziele formulieren. „Früher, als es nur Noten gab, gab es die Möglichkeit der inneren Kündigung. Heute geht das für die Kinder nicht mehr.“ Eine ehemals gute Idee habe hier zur Verschlechterung geführt.
Nachdem die Initiative ihr Anliegen in der Elternkammer vorgetragen hatte, formulierte Kammermitglied Axel Dreyer eine Anfrage an den Senat. Er wollte unter anderem wissen, wie viele Kinder in Hamburg nicht der Schulpflicht nachkommen, wie viele sich in psychiatrischer Behandlung befinden und ob es Schätzungen gibt, „wie viele Kinder durch die Schule krank werden“. Er bezweifele, „dass die Durchsetzung der Schulpflicht mit Zwang dem Ziel der Bildung dient“, schrieb er. Es dürfe nicht sein, dass Kinder an Gesundheit und Psyche geschädigt werden. „Wenn es nötig ist, die Schulpflicht zu lockern, muss darüber diskutiert werden.“
Dreyers Textvorschlag kam allerdings in der Elternkammer nicht durch. „Die Elternkammer hat sich mit den Damen unterhalten“, sagt deren Vorsitzender Marc Keyneard. „Jetzt sind wir dabei, die Fakten zusammenzutragen und zu gucken, ob das ein Thema ist, mit dem sich die Kammer beschäftigen muss.“
In Sachsen, wo kürzlich das Schulgesetz geändert wurde, haben sich die Landeselternvertretung und die Landeszentrale für politische Bildung mit den Freilernern befasst. Vor allem in der ländlichen Oberlausitz fanden sich viele Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen. „Diese Angst-Geschichte, die haben wir hier überwunden“, sagt Leif Wetzel vom Kinderrechtebüro Sachsen. Etwa 60 Familien lassen dort ihre Kinder zu Hause lernen, unterstützt von der Clonlara-Fernschule.
Deren Deutschlandvertreterin Mireille Schülpke hat das Konzept dort vorgestellt. „Immer mehr Jugendämter akzeptierten nun die alternative Beschulung“, berichtet Wetzel. „Sie sehen dies nicht als Tatbestand der Kindeswohlgefährdung, wenn Eltern Nachmittagsaktivitäten wie Anmeldung im Sportverein dokumentieren und so nachweisen, dass die Kinder aktiv sind und nicht sozial verarmen.“ Es könne aber noch Bußgelder der Schulaufsicht geben, weil Eltern den Schulhausanwesenheitszwang umgehen. „Die Gerichte entscheiden da aber durchaus kinderfreundlich.“ Das Problem könnte einfach gelöst werden, wenn Clonlara als Ergänzungsschule genehmigt wäre.
Clonlara habe im deutschsprachigen Programm derzeit 188 Schüler, berichtet Leiterin Mireille Schülpke. Die Schule sei in den USA seit 50 Jahren anerkannt und habe inzwischen über 35.000 Absolventen. Die Schüler können das amerikanische High-School-Diplom erarbeiten oder sich auf die Externenprüfung deutscher Schulabschlüsse vorbereiten. In der Regel gebe es Einzelabsprachen mit Schul- und Jugendämtern, berichtet Schülpke, in Sachsen habe die Fernschule mit mehreren Jugendämtern „eine Art Gruppenlösung“ gefunden.
Den Weg, sich als Ergänzungsschule anzumelden, sei Clonlara bewusst nicht gegangen, da man sich sonst „hier und da verbiegen müsste“. Die Lernbetreuer blieben mit den Kindern über Telefon, Mail, Skype oder auch persönlich in Kontakt, sie seinen aber mehr Prozessbegleiter. „Lernen in Familien passiert beiläufig. Wir helfen, dafür ein Gespür zu bekommen und diese Lernfortschritte zu dokumentieren.“
Kinder könnten beispielsweise Chemie lernen, indem sie ein Schulbuch durcharbeiten oder indem sie einen Garten anlegen und den Düngerbedarf der Pflanzen recherchieren. Die Kinder sollen so die Neugierde nicht verlieren. Lernen funktioniert in Sinnzusammenhängen sehr gut, das lehrt auch moderne Hirnforschung.
Nur drei Prozent würden auf den Schulbesuch verzichten
Gwiasda fände es gut, wenn Hamburg Sachsen als Vorbild nähme. Sie geht davon aus, dass allenfalls drei Prozent der Kinder und Eltern auf den Schulbesuch verzichten würden, wäre er freiwillig. Das zeigten Erfahrungen in anderen Ländern wie England oder Österreich, die liberalere Gesetze haben.
Die Hamburger Linken-Politikerin Sabine Boeddinghaus hat den Eltern auch zugehört und findet ihr Anliegen zumindest diskussionswürdig. Sie hat in der Bürgerschaft bereits eine Anfrage zum Thema gestellt. In der Antwort stellt der Hamburger Senat klar, dass Homeschooling nicht erlaubt ist. Mit anderen Kindern der eigenen Altersgruppe zur Schule zu gehen, sei „die Pflicht und das Recht aller jungen Hamburgerinnen und Hamburger“.
Doch immerhin gibt es laut der Antwort des Senats für 40 Schüler eine „Befreiung aus wichtigem Grund“. Es gibt auch in Hamburg „seltene Einzelfälle“, wo Schüler mit einem Ferninstitut zu Hause lernen, räumt Behördensprecher Peter Albrecht auf Nachfrage ein. Man empfehle dann aber nicht das aus den USA stammende Clonlara-Institut, sondern deutsche Anbieter wie die Web-Individualschule Bochum oder das Institut für Lernsysteme ILS aus Hamburg. Ein „wichtiger Grund“ sei in der Regel „eine schwere psychische oder psychiatrische Erkrankung“ oder hoher „Unterstützungsbedarf“.
Auch dass Eltern mit ihren Kindern ins Ausland gehen, um privathäuslichen Unterricht zu ermöglichen, sei bekannt, so der Behördensprecher. In einem Fall sei das Referat Inklusion gerade dabei, zusammen mit einem Jugendhilfeträger eine solche Situation zu gestalten. „Es ist entscheidend, dass die Sorgeberechtigten zu Gesprächen bereit sind.“
Die Eltern der Initiative „Frei sich bilden“ hören diese Aussagen mit Verwunderung. „Uns hat man so eine Fernschule damals nicht angeboten“, sagt Peter Schneider. „Und wir haben uns inzwischen bewusst für den modernen Ansatz von Clonlara entschieden“.
Auch für Tanja Gwiasda kommen die von der Schulbehörde vorgeschlagenen Fernschulen nicht infrage. Beide arbeiteten mit „klassischem Curriculum, Tests und Noten“, sagt sie. Das helfe den Kindern, die auf diese klassische Weise nicht lernen können, „überhaupt nicht weiter“.
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