Debatte um Stuckrad-Barre: Get over it
Mehr Frauen und weniger Ich hätte Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ gut getan. Oder auch die Erzählung aus Sicht der männlichen Chefs.
Als ich letztens im Kino war, lief in der Werbephase ein Spot, der für sexuelle Belästigung sensibilisierte. Spätabends stromert eine Gruppe junger Typen mit Bier und Boombox durch eine Innenstadt. Einer von ihnen macht ein Mädel an, das da auf ein Uber wartet. Sie hat offensichtlich kein Interesse, weicht zurück, versucht ihn zu ignorieren; als er nicht von ihr ablässt, wirkt sie zunehmend verängstigt. Die anderen stehen teilnahmslos daneben, sie lassen ihren Freund machen, aber ganz wohl ist ihnen dabei nicht.
Schließlich ringt sich einer durch: „Hey, was soll das, Mann? Komm, lass gehen!“ Dann wird ein Sprechband eingeblendet: „Man up! Schreite ein bei sexueller Belästigung.“ Meine Freundin beugte sich zu mir rüber und flüsterte: „Wird Zeit, dass es auch solche Kampagnen gibt!“ Endlich wird betont, dass Feminismus auch Männersache ist.
Man könnte also Stuckrad-Barres neues Buch begrüßen: endlich beschäftigt sich auch mal ein Mann mit MeToo. Wenn es nur so wäre. In „Noch wach?“ geht es um eine sich zerrüttende Männerfreundschaft zwischen einem ich-erzählenden Schriftsteller und seinem besten Freund, Chef eines Boulevard-Fernsehsenders. Die Freundschaft zerrüttet sich über Fragen der Moral, und das – dieser Hintergrund, der die Haupthandlung motiviert – sind Fragen darüber, wie ein Senderchef mit Vorwürfen sexuellen Machtmissbrauchs gegen seinen Chefredakteur umzugehen hat.
Ist Moral von der „links woken Zeitgeistbubble gepachtet“und „lächerlich“, weil in der Realität eh alles „wahnsinnig kompliziert“ ist, wie der Senderchef sich gerne aus der Affäre zu ziehen sucht, oder missbraucht der Chefredakteur schlicht routiniert seine Macht, „Einvernehmlichkeit my ass“?
Ich-Erzähler will Protagonist bleiben, ist es aber nicht mehr
Fängt das Buch mit der Männerfreundschaft an, scheint sie bald zur Rahmenhandlung degradiert. Jetzt geht es doch um sexuelle Belästigung. Hier will der Ich-Erzähler weiterhin Protagonist bleiben, ist es aber de facto nicht mehr – wichtig sind die missbrauchten Frauen (nicht Opfer, sondern Belastungszeuginnen), der Chefredakteur-Täter, und der Freund, bald Ex-Freund des Ich-Erzählers, der dem Täter partout den Rücken freihält.
Der Ich-Erzähler ist eine Figur zu viel, für die Handlung überflüssig. Zwar kommen ihm Seelsorger-, vielleicht Beschützer- und Vermittlerrollen zu, aber wäre es nicht spannender, direkt von den Belastungszeuginnen zu hören? Die nämlich scheinen mit ihren Erfahrungen ganz unterschiedlich umzugehen. Die eine beschwert sich und wird gefeuert, die andere fühlt sich geschmeichelt, die nächste verharmlost „da müsse man ja jetzt auch nicht so ein Fass aufmachen“ (328). Diese Frauen würde man gern näher kennenlernen. Stattdessen werden nur kurz ihre O-Töne eingeblendet.
Von einer erfährt man mehr: Das ist Sophia, Gesicht des Primetime-Formats „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ und bald neue beste Freundin (oder doch Schwarm?) des Ich-Erzählers. Sie entwickelt sich im Laufe des Buches von „das ist NORMAL für uns Frauen“, „get over it!“ zu „Ich bin jetzt übrigens doch auch Feministin“. Leider erleben wir diese Entwicklung nicht mit. Der Ich-Erzähler chillt nämlich gerade am Pool in LA; zurück in Berlin wird er upgedated – da hat Sophia schon alles verstanden, muss es nur noch kurz erklären.
Geschichte aus Sicht des Chefs erzählen
Oder wie wäre es, die Geschichte aus Sicht des Chefs oder sogar aus Sicht des Chefredakteurs zu erzählen? Das wäre natürlich schwierig, ist Letzterer doch ein unausstehlicher „Krawalldödel“ und entpuppt sich Ersterer immer mehr als aalglatter, rückgratloser Spieler. Aber könnte man bei diesem Gedankenexperiment nicht etwas lernen, über Macht, schlechten Charakter und wie solche Leute eigentlich mit sich selbst klarkommen? Interessanter als das bemühte Gutmenschentum des Ich-Erzählers („Ich war komplett überfordert, aber die Frauen ja erst recht“) wäre das allemal.
Der versucht verbissen, alles richtig zu machen: Frauen unterstützen, aber daraus keine „Männerranküne“ machen; geduldig zuhören, aber nicht nur zuhören; dem Freund ins Gewissen reden, aber bloß nicht den „holden Beschützer“ spielen. Das ist so ermüdend, dass er am Ende des Buches ganz erschöpft auf seine LAer Pool-Liege plumpst.
Bizarrerweise scheint er damit genau dem rechten Narrativ auf den Leim zu gehen, das er zutiefst verabscheut: dass man heutzutage nichts mehr sagen und tun darf, man immer vorsichtig sein muss, ja keinen zu triggern, dass der Grad des moralisch richtigen Handelns besonders für weiße Männer ganz schmal geworden ist. Ist das so?
Ratgeber für verwirrte Männer
Dabei hat der Ich-Erzähler sogar schriftlich, was zu tun ist – Rose, ein Opfer von Harvey Weinstein, hatte ihm das in LA noch aufgeschrieben. Und das klingt ziemlich einfach: „Wenn sie sich dir anvertrauen – sei kein Arschloch. Hör ihnen zu. Such nach anderen. Hör ihnen zu. Und dann setze dich für die ein.“
Jetzt liest sich „Noch wach?“ wie ein Ratgeber für verwirrte Männer. Es wird lehrmeisterlich – ein bisschen so wie im Kinospot. Lektionen, wie die von Rose, gibt es fast von der Kanzel herab. Zum Beispiel diese „HANDREICHUNG von Sarah Silverman zu Comedian Louis C.K: er ist ein großer Künstler UND er hat sich ekelhaft gegenüber Frauen verhalten. Und JA, diese Aussagen können gleichzeitig wahr sein.“ Schade, dass das einfach gesagt wird, gäbe es doch im Roman auch die Möglichkeit, es zu zeigen.
Halbdeutschland fragt sich gerade, was da los ist bei Springer. Und obwohl es Stuckrad-Barre jetzt also wirklich nicht um Bild geht, sondern eben um einen „bürgerkriegsgeilen Wutsender, der sich als Nachrichtenkanal verkleidet“, beantwortet er diese Frage zumindest ein bisschen. Ernst ist in diesem Milieu nichts, es macht “einfach so viel Spaß, Regeln nicht zu befolgen“, für Elon Musk ist die Welt ein Witz, und alle wären gerne so wie Elon.
Am besten ist „Noch wach?“, wenn es diese Welt erzählerisch verkörpert. Dann steht das Buch, genau wie Chef und Chefredakteur es immer versuchen, über allem, lächelt ironisch und lässt sich schwer fassen. Endlich, endlich kommt der*die Leser*in auch mal zum Denken.
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