Debatte um Schriftsteller W. G. Sebald: In dieser Prosa spukt es
Die englischsprachige Literaturwelt diskutiert aus Anlass einer neuen Biografie über W. G. Sebald. Wie bedeutsam ist der Schriftsteller wirklich?
Als Beitrag zum biografischen Genre wird Carole Angiers gerade erschienenes Buch „Speak, Silence: In Search of W. G. Sebald“ von der englischsprachigen Kritik eher skeptisch beurteilt. Schon die ersten Rezensionen bemängeln eine unangemessene Sentimentalisierung des 2001 bei Norwich tödlich verunglückten Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers.
Kritisiert wird die milde Nachsicht, die Angier gegenüber Sebalds – befremdlich zahlreichen und eklatanten – Ausschmückungen und Verfälschungen des eigenen Lebenslaufs walten lässt – sowie das Herunterspielen der Bedenken- und sogar Rücksichtslosigkeit, mit der Sebald sich ungefragt fremder Lebensläufe für die Konstruktion seiner Docufiction bediente.
Vor allem aber krankt Carole Angiers Buch offensichtlich daran, dass die wichtigsten resource persons – vor allem die Witwe Ute Sebald sowie Sebalds Doktorand und Freund Uwe Schütte – sich ihr nicht für Auskünfte zur Verfügung gestellt haben. Konkrete biografische Information wird deshalb auf weiten Strecken durch Schilderungen der Reisen und Umstände ersetzt, die Angier zu ihren Gesprächen mit weniger informierten biografischen Zeugen geführt haben. Aber aus der quellentechnischen Not wird in ihrem Buch nicht wirklich eine erzählerische Tugend.
Wie haltbar sind die Bücher Sebalds?
Interessanter ist Angiers Buch dagegen seit seinem Erscheinen in dem Sinn geworden, dass seine Rezeption in den USA und Großbritannien eine Debatte öffentlich macht, die sich in der akademischen Literaturwissenschaft seit einiger Zeit anbahnt (zum Beispiel in Luisa Bankis viel beachteter Monografie „Post-Katastrophische Poetik: Zu W. G. Sebald und Walter Benjamin“ aus dem Jahr 2017).
Die neue Sebald-Debatte beschäftigt sich mit der Frage, wie valide und haltbar die Bücher dieses Schriftstellers – abgesehen von ihrer aufsehenerregend perfekten stilistischen Faktur – als intellektuelle, historiografische und politisch-moralische Unternehmungen eigentlich sind.
W. G. Sebald ist seit seiner kurzen literarischen Karriere während der long nineties – zwischen Mauerfall und 9/11 – der weltweit meistzitierte deutsche Autor geworden und – vielleicht abgesehen von Günter Grass – der außerhalb Deutschlands bekannteste seit 1945 überhaupt. „Is literary greatness still possible?“, fragte Susan Sontag 1999 im Times Literary Supplement. Für sie lag die bejahende Antwort in Sebalds Stil und in seiner stilistischen Haltung.
Internationaler Ruhm und Einfluss
Auch die seinerzeit Sensation machende literarische Form der poetic non-fiction hat zu Sebalds internationalem Ruhm beigetragen, denn sie wurde besonders im angelsächsischen, aber auch im hispanischen Sprachraum in einer Weise einflussreich, die in Deutschland noch gar nicht so recht angekommen ist. Jetzt wird inhaltlich genauer hingesehen. Zum Beispiel am 21. Oktober in der New York Review of Books durch einen jener von Sebald beeinflussten jüngeren amerikanischen Schriftsteller, nämlich durch Ben Lerner („Leaving the Atocha Station“).
Der erste Vorwurf, der sich auch ehrlichen Bewunderern des Sebald’schen Werks auf den zweiten Blick aufdrängt, ist eine Tendenz, die man auf den Begriff „paranoischer Pantragismus“ taufen könnte. Seine „Prosabücher unbestimmter Art“ sind geprägt durch ein feingesponnenes Gewebe von Leitmotiven, Korrespondenzen, Anspielungen, patterns, historischen Wiederholungen, Vorausdeutungen und Wiederaufnahmen. Angier nennt es treffend „metaphysics of coincidence“.
In dieser Prosa spukt es. Nabokov mit einem Schmetterlingsnetz geht um in ihnen, Kafkas Jäger Gracchus, dessen Totenbarke angetrieben wird von dem „Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst“. Die Toten kehren wieder, die Katastrophen verweisen aufeinander.
Das denkbar Schlimmste heraufbeschwören
Luisa Banki beschreibt die „ununterbrochene Bewegung des Sebald’schen Erzählers, die ihn beständig Bezüge zwischen den unterschiedlichsten Gegebenheiten herstellen lässt, die Züge eines paranoischen Beziehungswahns trägt“. Und all das verweist, so unentrinnbar und unvermeidlich wie das Amen in der Kirche und wie die fortwährende Katastrophe in der Philosophie der „Kritischen Theorie“ (die Sebalds Generation geprägt hat wie keine andere), auf das denkbar Schlimmste.
„Where everything is bad, it must be good to know the worst“, lautet ein Aphorismus des britischen Philosophen Francis Herbert Bradley, den Adorno einer der Abteilungen seiner „Minima Moralia“ vorangestellt hat. Nichts bezeichnet auch Sebalds paranoischen Pantragismus genauer.
Aber – wie Ben Lerner schreibt: „if history is one long catastrophe returning in new guises, the work of historical reckoning can pass into a transhistorical fatalism. This is why I can lose patience with Sebald’s narrators’ tendency to see only ruins, which is a way of not seeing forms of life and meaning-making that have sprung and might spring up in their midst. It’s not that it’s depressing; it’s that it’s leveling.“ In der historischen Nacht, in der sich Sebalds Erzähler gefangen wähnt, sind alle Katzen grau.
Vorwurf der appropriation
Mit diesem nivellierenden Geschichtsblick hängt ein weiterer – und schwerwiegenderer – Vorwurf gegen Sebalds Bücher zusammen. Dass er neuerdings in den Blick gekommen ist, hat vielleicht zu tun mit dem Verdikt der postkolonialen Theorie über eine Verfahrensweise, die sie appropriation nennt.
Eine der wenigen sehr gelungenen Recherchen Carole Angiers bezieht sich auf das reale Vorbild der Figur des Dr. Henry Selwyn in der ersten Erzählung des Prosabuchs „Die Ausgewanderten“. Die real existierende Person, die Sebalds Buchperson zugrunde liegt, hieß Philip Rhoades Buckton und war der Vermieter des Ehepaars Sebald in Abbotsford.
Buckton nahm sich, als das Ehepaar Sebald schon nicht mehr bei ihm wohnte, mit seinem Jagdgewehr das Leben. Die dokufiktionale Erzählung suggeriert, dass dieser Selbstmord die verzögerte Konsequenz der Verfolgung eines jüdischen Emigranten aus dem belarussischen Grodno durch die Nationalsozialisten gewesen sei.
Aber: der real existierende Vermieter des Ehepaars war, wie Lerner schreibt, „almost exactly like Dr. Henry Selwyn except in the most important respect. For he not only seemed English; he was English, through and through. He was born in Cheshire, not Lithuania, and he didn’t have a Jewish bone in his body.“
Mehr in der Fantasie als in der wirklichen Welt gelebt
Nicht nur gegenüber dem traurigen Schicksal des lebendigen Vorbilds von Dr. Henry Selwyn ist diese Doppelbelichtung übergriffig (und die Familie von Philip Rhoades Buckton kam gegenüber Carole Angier auch sehr schlecht auf ihren ehemaligen Mieter zu sprechen). Vor allem ist die literarische appropriation des nur allzu wirklichen jüdischen Leids durch einen deutschen Schriftsteller gegenüber der historischen Realität und Entsetzlichkeit des Völkermords an den europäischen Juden unangemessen – um eine milde Bezeichnung zu wählen.
Es mag wahr sein, gibt Lerner zu bedenken, dass Sebald, wie man es Dichtern nachsagt und wie Angier ihm zugute hält, mehr in der Fantasie als in der wirklichen Welt gelebt hat. Aber „if that renders him unable or unwilling to tell the difference between fact and fiction, history and myth, how can she consider him to be the German writer who most took on the ‚burden of responsibility‘ for German history?“ Je genauer man auf die seltsamen Verdrehungen zwischen realen Vorbildern und pantragischer literarischer appropriation durch W. G. Sebald schaut, desto sinistrer schaut das Ganze zurück.
Große Kunstwerke, schreibt Adorno, seien diejenigen, die an ihren fragwürdigen Stellen Glück haben. Und politisch-moralische Fragwürdigkeiten kommen auch im Werk anderer bedeutender Schriftsteller vor.
Gerade Kennerinnen der deutschen Literatur müssen sich mit dieser kognitiven Dissonanz auseinandersetzen und sind in gewisser Weise an sie gewöhnt – wenn auch die jetzt zutage tretenden Peinlichkeiten besonders gewöhnungsbedürftig bei einem Schriftsteller ins Gewicht fallen, der in der Nachfolge Sontags allzu oft als „a Whitmanic or even Christlike figure“ (Lerner) kanonisiert wurde. „Writing is a questionable business“ lautet der resignierte letzte Satz der Lerner’schen Würdigung der neuen Biografie W. G. Sebalds und ihres Gegenstands.
Sebalds Werk als „contemporary gothic“
James Wood, der scharfsinnige Literaturkritiker des New Yorker, hat schon vor Jahren – worauf wiederum Ryan Ruby hinweist – darauf aufmerksam gemacht, dass Sebalds Erfolg bei der angelsächsischen Leserschaft der Lektüre deutscher Nachtseiten-Romantik des 19. Jahrhunderts durch Colerigde, Carlyle und Poe glich. Die literarischen Effekte der Sebald’schen „contemporary gothic“ – so möchte man die neueste Debatte über sein Werk mit einer zögernd versöhnlichen Wendung bilanzieren – sind auch dann ein legitimer Lesegenuss, wenn man ihre intendierten politisch-moralischen Ansprüche in Frage stellen muss.
Ohne Abstriche wird man die weltliterarische Nobilitierung des neuen Genres jener poetic non-fiction durch den deutschen Schriftsteller positiv in Rechnung stellen und ohne Reue wird man auch – nach wie vor – die wundervollen Satzbögen eines Prosakünstlers bewundern dürfen, der plausibel an die Sprachkultur Adalbert Stifters und Edward Gibbons anschließt.
Aber als politisch-moralische Instanz hat Sebald wenig Glück und er ist in dieser Rolle vermutlich nicht zu retten. „Writing is a questionable business“, und Lesen auch. W. G. Sebald, so scheint es, wird eher als eine Art zeitgenössischer E. T. A. Hoffmann in die Literaturgeschichte eingehen, nicht als die belletristische Hannah Arendt der long nineties.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Krieg in Nahost
Israels Dilemma nach Assads Sturz
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trump und Krypto
Brandgefährliche Bitcoin-Versprechen