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Debatte um Diplomatie im UkrainekriegKalte Forderungen

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Immer öfter appellieren Politiker im Westen, den Krieg in der Ukraine „einzufrieren“. Putin bekäme so den Sieg, zu dem er selbst nicht die Kraft hat.

Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, hört seinen Soldaten aufmerksam zu Foto: Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

D as Jahr 2024 beginnt als Kriegsjahr. Mit der heftigsten Angriffswelle auf die Ukraine aus der Luft seit Kriegsbeginn hat Russland ein deutliches Zeichen gesetzt: Vor Wladimir Putins Wahlsieg im März soll die Ukraine sturmreif geschossen werden.

Es ist unbegreiflich, warum westliche Partnerländer immer noch zögern, der Ukraine alles zur Verfügung zu stellen, um die feindlichen Abschussrampen, Luftwaffenbasen und Raketenlager zu zerstören, bevor deren Gerät in den Himmel aufsteigen kann. Präzise Schläge gegen das russische Angriffspotenzial würden viele Menschenleben retten und das Ende des Kriegs forcieren.

Stattdessen starren westliche Hauptstädte besorgt auf die mageren Erfolge der Ukraine in den Monaten der „Gegenoffensive“. Es hat sich ein Diskurs verfestigt, der Krieg sei an einem „Patt“ angelangt und man müsse dringend nichtmilitärische Auswege suchen. In Berlin und Washington wird von einem „Einfrieren“ des Konflikts geraunt, wodurch Russland zu Verhandlungen bewegt werden soll.

Den Begriff der Pattsituation (stalemate) setzte der Armeechef der Ukraine, Saluschnyj, Anfang November in die Welt, als er lediglich die ukrainische Gegenoffensive für festgefahren erklärte. Im Westen wurde das als Anzeichen einer Ermattung missverstanden. Saluschnyjs Diagnose war kein Plädoyer für ein Einstellen der Kämpfe und Verhandlungen mit Russland. Es war das Plädoyer für eine militärische Neuausrichtung seiner Streitkräfte und auch ein Plädoyer für mehr ukrainische Eigenständigkeit.

Der Ukraine aus eigener Unsicherheit heraus Gebietsverzicht gegen Waffenruhe vorzuschlagen, ist keine Realpolitik, es ist irreal

Russland zog daraus den nicht ganz falschen Schluss, zwischen Kyjiw und seinen Alliierten gebe es Differenzen. Putin beobachtet die Debatten beim Feind sehr genau. Auf jedes Signal, die Solidarität mit der Ukraine könne bröckeln, antwortet Russland mit einer Verstärkung seiner Angriffe. So auch jetzt.

Aus eigener Unsicherheit heraus der Ukraine Gebietsverzicht gegen Waffenruhe vorzuschlagen, ist also keine Realpolitik, es ist völlig irreal. Man signalisiert Putin damit eine verschleierte Kapitulation. Ihm die Kontrolle von Teilen der Ukraine auf unbestimmte Zeit zu gestatten, wäre für die betroffenen Menschen eine Katastrophe und für Putin ein Etappensieg auf seinem langen Marsch zur Wiedererrichtung des Sowjetreichs. Das bringt keinen Frieden. Man kann einen politischen Konflikt zwischen einer aggressiven Diktatur und einer freiheitlichen Gesellschaft nicht territorial lösen.

Russland ist keine Übermacht

Die westliche Entspannungspolitik im Kalten Krieg funktionierte nur, weil sie von einer massiven Aufrüstung flankiert war. Die Sowjetunion wurde totgerüstet. Heute halten manche das viel schwächere Russland für eine Supermacht mit unerschöpflichen Ressourcen, der man nichts entgegensetzen könne. In Wahrheit liegt Russlands Volkswirtschaft irgendwo hinter Kanada und Brasilien.

Konnte Moskau zu Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs noch jeweils in kürzester Zeit fünf Millionen Mann gegen Deutschland mobilisieren, tut es sich heute schwer damit, auch nur seine aktuelle Truppenstärke von 340.000 Mann in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Heute ist Russland der Angreifer, nicht der Angegriffene, eine Generalmobilisierung ist vor den Wahlen ausgeschlossen.

In verlustreichen Offensiven verpulvert die russische Armee ihre Reserven für die Eroberung von gerade mal einer mittelgroßen ukrainischen Stadt pro Jahr – letztes Jahr Bachmut, dieses Jahr vielleicht Awdijiwka. Russland verfeuerte in der ersten Woche dieses Jahres so viele Raketen, wie es im Monat produziert. Das ist nicht lange durchzuhalten, es ist ein kurzlebiges Putin-Wahlkampffeuerwerk. Den Nachschub liefern Iran und Nordkorea – und all das soll nicht zu besiegen sein? Lächerlich.

Die Uhr tickt, aber nicht, weil Russland stärker wird. Bei den EU-Wahlen im Juni droht ein Rechtsruck, ebenso bei den US-Wahlen im November. Darin steckt die wahre Gefahr für die Ukraine. Angesichts dessen ist das Gerede über ein „Einfrieren“ des Konflikts ein zynisches Spiel mit dem Feuer. Es läuft darauf hinaus, Putin eine Atempause zu gewähren, bis Trump im Weißen Haus sitzt und der Westen die Waffen streckt. Das ist das Gegenteil von Frieden. Es verlängert den Krieg.

Jetzt also muss es eine deutliche Antwort auf den russischen Raketenterror geben, damit er nicht nach einer Erholungspause neu aufflammt. Jetzt müssen auch die finanziellen Weichen dafür gestellt werden, dass die Ukraine die Oberhand gewinnen kann. Wenn Russland zum Rückzug gezwungen wird – dann kann man über eine euro­päi­sche Sicherheitsarchitektur reden. Aber bis dahin ist ein Kraftakt erforderlich. Sich davor heute zu drücken, vervielfacht morgen den Preis für Europas Überleben.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.