Debatte um 9-Euro-Ticket in Berlin: Verkorkster Anschluss
Regierungschefin Giffey (SPD) widerspricht mit ihrem Vorpreschen nicht nur sich selbst, sondern vergrätzt so auch Koalitionspartner und Brandenburg.
ber das 9-Euro-Ticket und das von der rot-grün-roten Koalition in Berlin versprochene Nachfolgemodell lässt sich viel streiten. Ist es nun sinnig oder nicht, nur ein Verkaufsschlager oder tatsächlich ökologisch seine Milliardenkosten wert? Ist es eine „Brot und Spiele“-Maßnahme zur Beruhigung aufgeregter Massen oder tatsächliche Entlastung?
Darüber ist in der vergangenen Wochen viel diskutiert worden, und das wird auch weiter so sein. Kaum bestreiten lässt sich aber, dass Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) dabei ein fragwürdige Rolle eingenommen hat
Denn selbst wenn das 9-Euro-Ticket sich in vertieften Untersuchungen als etwas erweisen sollte, die alles Geld der Welt wert gewesen wäre: Die, um es bildhaft auszudrücken, von Giffey dabei nun verursachten Nebenkosten war und ist es nicht wert. Denn Giffey hat mit ihrer Ankündigung einer Fortsetzung des Tickets für alle zum einen frühere Ankündigungen widersprochen und dadurch ihre Glaubwürdigkeit beschädigt.
Zweitens passt ihr offenbar unabgestimmtes Vorgehen überhaupt nicht zu früheren Aussagen, eng mit dem Nachbarland Brandenburg zusammen zu arbeiten. Und drittens trägt ihr Vorpreschen – um es vorsichtig auszudrücken – nicht dazu bei, das Vertrauen von Grünen und Linkspartei in ihren Koalitionspartner SPD zu stärken.
Denn Giffey macht mit einer Fortsetzung des Billig-Tickets, was sie eigentlich nicht unterstützen wollte, nämlich ein undifferenziertes Entlastungsangebot. „Entlastungspolitik mit der Gießkanne“ solle vermieden werden, sagte die Regierungschefin noch nach einer Senatssitzung Mitte August. Genau ein solches „Gießkannenprinzip“ aber erkennt etwa der Berliner Landeschef des Umweltverbands BUND, Tilman Heuser, im 9-Euro-Ticket und einem Nachfolgemodell für alle.
BUND: „Gießkannenprinzip“
Viel besser findet Heuser, wie er jüngst der taz sagte, wenn nur Einkommensschwache beim Ticketkauf deutlich weniger zahlen würden. Das übrige Geld sollte aus seiner Sicht in Maßnahmen wie eine Jobticket-Kampagne oder Energiesparberatungen und grundsätzlich in der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gehen.
Zudem hat Giffey viel Vertrauen bei den Brandenburger Nachbarn verspielt. Nach ihrer Amtsübernahme hatte die Regierende Bürgermeisterin eine enge Zusammenarbeit mit dem Umland betont. Ihre erste Dienstreise ging nach Potsdam, die beiden Regierungen tagten auch schon zusammen; immer wieder war von der gemeinsamen Metropolenregion zu hören.
Wie konnte es dann passieren, dass Giffey in einem – zumindest in der öffentlichen Diskussion – so zentralen Thema wie dem 9-Euro-Ticket nicht vorab in Potsdam durchklingelt und versucht, den dortigen Ministerpräsidenten und ihren SPD-Genossen Dietmar Woidke mit ins Boot zu holen? Denn nach Brandenburger Darstellung war der Vorstoß nicht abgesprochen. Woidke selbst forderte stattdessen ein „bundeseinheitliches, attraktives und seriös finanziertes Modell“.
Die Frage nach der ausgebliebenen vorherigen Abstimmung stellt sich umso mehr, weil Giffey und Woidke mehr als die gemeinsame SPD-Mitgliedschaft verbindet: Der Brandenburger SPD-Chef gilt als einer derer, die dafür sorgten, dass die damalige Neuköllner Bezirksstadträtin 2018 plötzlich Bundesfamilienministerin wurde.
Das Vertrauen hat gelitten
Nicht zuletzt aber hat auch das Vertrauen in der Koalition gelitten, umso mehr, weil der SPD-Vorstoß schon vor der Koalitionssitzung bekannt wurde, in der es doch gerade um dieses Thema gehen sollte. Grünen-Fraktionschef Werner Graf sprach sich dagegen aus, ein neues Ticket auf den Markt zu bringen, bevor auf Bundesebene eine Anschlusslösung für das 9-Euro-Ticket geklärt ist. Und war mit dieser Bewertung nicht weit weg von Giffeys Parteifreunden in der Brandenburger SPD-Fraktion. Von dort hieß es am Dienstag: „Wir brauchen eine bundeseinheitliche Lösung, keine Sonderwege einzelner Länder.“
Mit einem Vorstoß gleich an drei Seiten nicht bloß Porzellan zu zerschlagen, sondern Vertrauen zu schädigen, ist schon eine Leistung. In einem Arbeitszeugnis, in dem nichts offen Negatives stehen darf, könnte es dazu allenfalls heißen: „Das muss man erst mal schaffen.“ Giffey hat so manches geschafft in der Politik, was sich tatsächlich und ohne Beschönigung zu beklatschen lässt. Ihr Vorgehen beim 9-Euro-Nachfolgemodell aber ist das Gegenteil davon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass