Debatte Wirtschaftstheorie: Die Fehler der Keynesianer
Unter den Volkswirten herrscht Krieg. Die Neoliberalen haben bisher gewonnen, weil die Keynesianer zentrale Themen lange ignorierten.
E uropa hat in zehn Jahren drei schwere Finanzkrisen erlebt – und dennoch regiert noch immer das neoliberale Paradigma, das im Kern behauptet, Märkte seien perfekt. Sie würden immer zum Gleichgewicht tendieren, weswegen der Staat nicht eingreifen dürfe. Wie kann so viel Blindheit sein?
Die Ökonomie ist eine tückische Wissenschaft: Ihre Theorien verändern ihr Objekt, die wirtschaftliche Realität – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften. Die neoliberale Theorie ist dafür ein gutes Beispiel: Sie verteilt Einkommen, Vermögen und Macht von unten nach oben und macht die Reichen noch reicher.
In der Ökonomie vermengen sich daher Erkenntnis und Interesse, Einsicht und Rechtfertigung. Umso bemühter sind Ökonomen, den Schein objektiver Naturwissenschaftlichkeit zu erhalten. Dies zeigt sich krass bei den Nobelpreisen: Ausgezeichnet werden am liebsten Theorien, die durch originelle Konstruktion und mathematische Abstraktion unkenntlich machen, dass sie in die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe eingreifen.
Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher und Universitätslektor in Wien. Letztes Buch: „Mitten in der großen Krise. Ein ,New Deal' für Europa“ (Picus Verlag, Wien 2010).
Die Theoriebildung ist daher auch ein Krieg um Vorherrschaft – an den Universitäten, in den Medien und in der Politik. Für Vermögende lohnt es sich, in die Theorieproduktion zu investieren und etwa Thinktanks, Lehrstühle und Studien zu finanzieren.
Die falsche „Phillips-Kurve“
Doch obwohl die Neoliberalen über viel Geld verfügen, kann Geld allein nicht erklären, warum sie in der Ökonomie eine derartige Hegemonie erreichen konnten. Es kamen auch Fehler der Keynesianer hinzu.
Zu ihren Irrtümern gehört die sogenannte „Phillips-Kurve“. Der britische Ökonom Phillips hatte beobachtet, dass geringe Arbeitslosigkeit mit höherer Inflation einhergeht. Dies allein ist noch keine sensationelle Erkenntnis: Bei Vollbeschäftigung sind die Gewerkschaften stark und können hohe Löhne durchsetzen, was wiederum die Preise steigen lässt. Doch später interpretierten die Keynesianer dies auch in umgekehrter Richtung und erweckten den Eindruck, dass man mit höherer Inflation Vollbeschäftigung schaffen könne. Damit produzierten die Keynesianer die größte Schwachstelle in ihrer „Theoriefront“.
Denn genau auf die Phillips-Kurve konzentrierte sich die Offensive der Neoliberalen: Ab 1971 brach die Weltwährungsordnung von Bretton Woods auseinander, und der Dollar verlor in zwei Schüben 50 Prozent seines Wertes, worauf die Opec wiederum mit zwei Ölpreisschocks reagierte. Dies löste zwei Rezessionen und eine starke Inflation aus. Damit waren die Keynesianer erledigt: Arbeitslosigkeit und Inflation stiegen gleichzeitig, und mit dieser „Stagflation“ schien ihre gesamte Theorie widerlegt. (Gleichzeitig wurde übersehen, dass die Neoliberalen die eigentlichen Auslöser der Krise waren, weil sie stets gefordert hatten, die Wechselkurse freizugeben.)
Finanzmärkte nicht erforscht
Hinzu kommt ein weiterer Grund: Die meisten Keynesianer haben sich nie für die Finanzmärkte interessiert – anders als Keynes selbst. In seiner „General Theory“ von 1936 finden sich zentrale Einsichten über das Wesen der Finanzspekulation: Da die Zukunft prinzipiell unsicher ist, werden die wirtschaftlichen Entscheidungen anhand von Erwartungen gefällt, die oft emotionsgeladen sind und sich wie von selbst verstärken, weil Menschen zu Herdenverhalten neigen.
Dies gilt vor allem für die Finanzmärkte, deren Akteure besonders kurzfristig agieren: Die „manisch-depressiven“ Schwankungen von Aktienkursen, Wechselkursen, Rohstoffpreisen und Zinssätzen führen periodisch zu Krisen. Der konservative Antimarxist Keynes wollte daher die Finanzspekulation unterbinden und forderte eine „Euthanasie der Rentiers“. Seine Erkenntnisse hat Keynes allerdings nicht in seine Theorie integriert – dies wäre später die Aufgabe seiner Schüler gewesen.
Keynes’ „Euthanasie-Botschaft“ wurde durch die Wissenschaft auch deswegen vernachlässigt, weil die Politik seine Empfehlungen in den 1950er und 1960er Jahren teilweise umgesetzt hatte: Das Weltwährungssystem von Bretton Woods unterband die Devisenspekulation und stellte die Finanzmärkte ruhig, so dass diese kein interessantes Forschungsgebiet mehr war. Überdies nährte die „Ruhe“ die Illusion, dass Finanzmärkte an sich stabil seien.
Zudem lassen sich Finanzmärkte nicht begreifen, indem man nur ökonomische Gleichungen produziert. Die Keynesianer hätten die Selbstisolation der Wirtschaftswissenschaften durchbrechen und intensiv mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten müssen, insbesondere mit der Sozialpsychologie, Soziologie und Politologie. Auch Feldforschung hätte geholfen, um zu belegen: Das „Überschießen“ der Finanzmärkte – „Bullen- und Bärenmarkt“ im Jargon der Trader – wird durch Spekulation produziert.
Krise von 2008 nicht genutzt
Da die Finanzkrise 2008 nicht für einen keynesianischen Gegenangriff genutzt werden konnte, geschah das glatte Gegenteil und der Neoliberalismus triumphierte. Die Krise wird zum Turbo, um in weiten Teilen der EU den Sozialstaat zu demontieren: Wenn auf den Bankrott von Mitgliedsstaaten spekuliert wird, dann begrüßen die EU-Eliten dies als eine „Disziplinierung durch den Markt“. Wenn dadurch die Krise verschärft wird, antworten sie mit der Troika-Sparpolitik, die Südeuropa in die Depression treibt.
Wenn daraufhin die Arbeitslosigkeit steigt, werden die Löhne gesenkt und die Sozialleistungen gekürzt. Die Neoliberalen stört es nicht, dass anschließend der Konsum einbricht – und die Arbeitslosigkeit noch weiter steigt. Ihr Rezept lautet: Dann muss eben noch mehr gespart werden.
Doch der Triumph der Neoliberalen wird nicht anhalten, denn ihr mächtigster Gegner sind sie selbst. Der Aufschwung will einfach nicht kommen, den sie stets aufs Neue prognostizieren. Stattdessen verlängert sich die Rezession, die am Ende auch die Vermögenden trifft. Es ist ja kein Zufall, dass die Aktienkurse wieder fallen. Eine Spielanordnung nach dem Motto „Lassen wir unser Geld arbeiten“ hat sich in der Geschichte immer selbst zerstört. Die Neoliberalen haben die Theorieschlacht gewonnen – und werden den Krieg trotzdem verlieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind