Debatte Pflegenotstand: Von Schweden lernen
Die Pflege in Deutschland ist in einem katastrophalen Zustand. Für eine Verbesserung sollte sich die Regierung an Skandinavien orientieren.
D er Pflegenotstand in Deutschland beherrscht nicht nur mediale Schlagzeilen und Talkshows, sondern auch den Alltag von immer mehr pflegebedürftigen und pflegenden Menschen. Die Koalitionsvereinbarung der GroKo Neuauflage enthält eine Fülle von Einzelvorschlägen auch für die Gewinnung von Pflegekräften. Allerdings beschränken diese sich eher auf ein Herumkurieren an Symptomen. Die Wurzeln des Pflegenotstands können sie kaum anpacken.
Die Aufstockung der Vollzeitstellen für Pflegekräfte als Sofortprogramm ist ein Tropfen auf den heißen Stein, ebenso die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn verkündete Verbesserung der Entlohnung, auch durch die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge. Vielmehr bedarf es einer grundsätzlichen Reform des Pflegesystems, wie es insbesondere in Schweden schon seit Jahren praktiziert wird.
Dort besteht seit vielen Jahren eine Vollversorgung in der Kranken- und Altenpflege, die durch die Kommunen bürgernah organisiert und aus Steuern finanziert wird. Die beitragspflichtige Pflegeversicherung in Deutschland ist hingegen nur eine Teilversicherung auf Bundesebene. Entsprechend geringer sind in Deutschland die finanziellen Ressourcen und damit auch die Pflegeleistungen. Gemessen am Bruttosozialprodukt sind die Ausgaben für die öffentliche Pflege in Schweden etwa dreimal so hoch. Dafür machen die privaten Kosten nur wenige Prozente aus, während sie in Deutschland etwa die Hälfte betragen und nach wie vor ein großer Teil der Pflege in den Familien selbst – und damit vor allem von Frauen – erbracht wird.
Besonders eklatant ist der hohe Anteil kommerzieller Pflegeeinrichtungen in Deutschland – mit den bekannten gravierenden Nachteilen für Pflegebedürftige und Pflegekräfte. Dagegen sind in Schweden, wie in den übrigen skandinavischen Ländern, die Altenpflegeeinrichtungen in öffentlicher Verantwortung. Der Personalschlüssel – nur der Hälfte der Pflegebedürftigen auf eine Pflegekraft – ist erheblich günstiger. Das ist eine wesentliche Voraussetzung sowohl für die Qualität der Pflege als auch die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte.
Fachliches Potential der Migranten
Besondere Herausforderungen ergeben sich in Schweden wie in Deutschland bei der Integration von MigrantInnen einschließlich AsylbewerberInnen in die Gesundheits- und Pflegeberufe. Trotz höherer Geburtenrate steigt auch in Schweden der Bedarf an Pflegeleistungen schon allein durch die Erhöhung der Lebenserwartung. Zudem gibt es auch hier den „Brain Drain“ durch Abwanderung von Fachkräften in andere skandinavische Länder mit besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen, insbesondere Norwegen.
Dabei ist Schweden anderen Ländern bereits einige Jahre voraus in der Ausschöpfung der fachlichen Potenziale von MigrantInnen, vor allem was den Erwerb sprachlicher Voraussetzungen und der erforderlichen Qualifikationen beziehungsweise deren Anerkennung betrifft.
Allerdings ist auch hierbei in Schweden nicht alles Gold, was glänzt. So ist die Arbeitslosigkeit unter MigrantInnen und AsylbewerberInnen nach wie vor hoch und die Eingliederung in die Pflegeberufe auf Grund sprachlicher und kultureller Defizite gering.
Gravierende Unterschiede gibt es auch in der Aus- und Weiterbildung, in Deutschland eine besondere Schwachstelle. Die durch das kürzlich verabschiedete Pflegeberufereformgesetz eingeleiteten Verbesserungen sind erste Schritte, vor allem zu größerer Transparenz, Gemeinsamkeit und öffentlicher Finanzierung, ändern jedoch wenig an der „scharfen Kante“ der Abgrenzung zwischen praktischer und akademischer Ausbildung. Während die Ausbildung in Deutschland für die Gesundheits- und Pflegeberufe weitgehend unterhalb einer akademischen Bildung erfolgt, ist dies in Schweden umgekehrt. So liegt gerade ein Schwerpunkt der akademischen Bildung – mit Bachelorabschlüssen, Masterprogrammen sowie weiterführenden Studiengängen bis zur Habilitation – darauf, hoch qualifizierte Arbeitskräfte für die Pflegeberufe zu gewinnen.
Das Berufsfeld Pflege ist also durchlässiger als in Deutschland und weitgehend ohne Altersbeschränkung. Dies erhöht nicht nur die Attraktivität und die Arbeitsbedingungen dieser Berufe, sondern ermöglicht auch eine höhere Qualität der Pflegeleistungen. Der Aufstieg von einfacher Krankenpflege oder Hebammentätigkeit bis zu Top-Positionen in Management, Wissenschaft und Forschung ist für zumeist Frauen über 50 oder auch 60 Jahren keine Seltenheit. Ein hohes Maß an durchlässiger lebenslanger Qualifizierung gibt es aber auch für die Helfertätigkeiten.
Einen wichtigen Beitrag zur Gewinnung und Beschäftigung von Arbeits- und Fachkräften für die Pflege leistet auch die in Schweden bei Weitem bessere öffentliche Kinderbetreuung. Dies dürfte auch dazu beitragen, dass deutlich mehr Pflegekräfte in Vollzeit oder Teilzeit mit höherer Stundenzahl arbeiten und länger in ihrem Beruf verbleiben. So beträgt die überwiegende Mehrzahl der Teilzeitarbeit in den Pflegeberufen in Schweden zwischen 25 und 34 Stunden. Gravierend sind die Unterschiede vor allem für eine Stundenzahl unter 20 Stunden in der Woche: Während in Deutschland viele Helfertätigkeiten in diesen Minijobs organisiert sind, betrifft Teilzeit mit unter 20 Stunden in Schweden lediglich eine Minderheit und wird vor allem als Einstieg oder Ausstieg eingesetzt.
Die Bundesregierung wäre also gut beraten, an Stelle eines wenig überschaubaren Aktionismus in Gesetzgebung und Praxis nachhaltige Lösungen zu suchen, wie sie in Schweden bereits gang und gäbe sind. Damit würde sie die Tarifpolitik der Gewerkschaften für bessere Löhne, Arbeitsbedingungen und Ausbildung wirksam unterstützen. Und dies ist die beste Strategie zur Bekämpfung des Pflegenotstandes.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören