Debatte Pädophilie-Forschung: Kaum Empirie zu Missbrauchs-Folgen

Was geschieht Kindern, die sexuelle Gewalt erfahren? Die Forschung zur Pädophilie tat sich lange schwer. Ihre Ergebnisse waren durchaus widersprüchlich.

Verkehrsschild. Bild: imago/Gustavo Alabiso

Es klingt so läppisch, dabei ist es so wahr, das Argument „es war eben eine andere Zeit“. Die 1970er und 1980er Jahre, in denen Pädosexualität sich das Mäntelchen einer sozialen Befreiungsbewegung zulegte, muten manchmal an wie eine versunkene Epoche. Das gilt nicht nur für die Kulturproduktion, in der sexualisierte Kinderkörper als Abbilder gesellschaftlichen Aufbruchs durchaus dazugehörten. Es gilt auch für den Stand wissenschaftlicher Erkenntnis – etwa darüber, wie schädlich Kindesmissbrauch überhaupt ist.

In der aktuellen Empörung darüber, dass Pädophile ihre sexuellen Interessen über Grünen-Parteiprogramme umzusetzen versuchten, wird der gesellschaftliche Kontext vielfach verleugnet. Doch flottierten damals Mutmaßungen darüber, welche Art Sexualität eigentlich wen befreite und wen knechtete, frei herum. So viele Überzeugungen wurden über den Haufen geworfen. Dabei ging auch viel Respekt vor akademischem Wissen vorläufig verloren.

Auch dort, wo der aufklärerische Rang der Wissenschaft unangefochten war, gab es nicht im Ansatz einen Konsens darüber, welche Folgen sexuelle Übergriffe bei Kindern und Jugendlichen haben. Die Frankfurter Sexualtherapeutin Sophinette Becker schilderte 1997 die Diskussion im Sonderausschuss des Bundestags zur Reform des Sexualstrafrechts: „Die Mehrheit der befragten Experten (Sexualwissenschaftler, Psychiater, Kinderpsychiater, Psychoanalytiker u. a.) verneinte (soweit empirisch feststellbar) psychische Dauerschäden als isolierte, linear-kausale Folge nicht gewaltsamer sexueller Handlungen.“

Wichtig ist hier das „soweit empirisch feststellbar“. Denn in der Tat warnten angesehene Sexualwissenschaftler früh vor der Verharmlosung der Pädophilie. Das manipulative, angeblich „gewaltfreie“ Vorgehen Erwachsener, das Verstummen der Kinder war längst geschildert worden. Deshalb erklärt heute etwa der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch: „Spätestens seit dem 18. Jahrhundert, das heißt, seit es unsere Sexualkultur im engeren Sinne gibt, ist allen klar, dass sexueller Kindesmissbrauch das Kind verletzt, beschädigt, ja traumatisiert.“

Später Beginn der Forschung

Das galt sicherlich für damals vorliegende Untersuchungen von auffälligen Schicksalen. Doch trugen die beteiligten Wissenschaftszweige erst seit Mitte der 1980er Jahre Erhebungen zusammen, um empirisch fundierte Aussagen über Ausmaß und Risiken unterschiedlicher Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche treffen zu können.

Wer sich ein wenig durch die medizinischen Datenbanken wühlt, sieht: Solches methodisches Geschehen begann überhaupt erst ab etwa 1985, fast ausschließlich im englischsprachigen Raum. Die Zahl der Beiträge speziell in psychologischen Fachjournalen stieg sprunghaft an und erreichte Anfang der 1990er Jahre einen Höhepunkt.

Nun liegt seit jeher ein breiter Graben zwischen der wissenschaftlichen und der „breiten“ Öffentlichkeit. Doch begann mit dieser Art Forschung erst die Ära, in der durchsickernde Forschungsergebnisse à la „x Prozent der Mädchen erfahren sexuellen Missbrauch“ zur Sensibilisierung der Gesellschaften beitrugen.

Endlich Kinder im Mittelpunkt

Erst in den 1990er Jahren erschienen endlich mehrere Studien, in denen nicht nur Erwachsene nach ihren Erinnerungen befragt wurden, sondern Kinder über längere Zeit beobachtet wurden: was ihnen geschah, ob und wann sie sich erholten. So konnte der Zusammenhang etwa zwischen psychischen Problemen und Missbrauch viel genauer beschrieben werden.

1993 berichteten Kathleen Kendall-Tackett, Linda Meyer Williams und David Finkelhor: „Die Auswirkung sexuellen Missbrauchs ist ernsthaft und kann sich in einer großen Variation symptomatischen und krankhaften Verhaltens äußern.“ Am stärksten verbreitet seien (über-)sexualisiertes Verhalten und Posttraumatische Belastungsstörungen. Ein Drittel der Kinder zeige gar keine Symptome.

Ende der 1990er Jahre erschien die erste Metaanalyse, die 59 Studien auswertete. Bruce Rind, Philip Tromovitch und Robert Bauserman schrieben 1998: „Was die Ergebnisse nahelegen ist, dass das negative Potenzial des sexuellen Kindesmissbrauchs für die meisten Individuen, die ihn erlebt haben, überschätzt wurde.“ Mädchen seien stärker betroffen als Jungen, auch hänge der Grad der Schädigung davon ab, inwiefern Gewalt angewandt wurde. Diese Studie verursachte solche Aufregung, dass sogar der US-Congress sich distanzierte, auch wenn die Fachgesellschaft sie für methodisch in Ordnung erklärte.

Wie weit und tief die Schäden aber gehen können, zeigte 2009 eine noch junge Studie im relativ jungen Zweig der Epigenetik. Demnach kann sich sexueller Missbrauch sogar in die Gene einbrennen und die Fähigkeit zur Stressbewältigung für immer beschränken.

Gekaperte Erkenntnisse

Über all die Jahre sammelte sich an den Hochschulen, auch in den Praxen der TherapeutInnen das Wissen darüber an, dass Kindesmissbrauch katastrophale, aber auch stark unterschiedliche Auswirkungen haben kann, dass Vernachlässigung und Gewalt diese auf jeden Fall verschärfen. Doch wie im Fall der Bruce-Rind-Studie kaperten Pädosexuelle jedes Fitzelchen Erkenntnis, dass es ihnen zu erlauben schien, sich Kindern zu nähern. Dies plus entsprechende Abwehrreaktion einer empfindlich gewordenen Öffentlichkeit machte die Diskussion unmöglich, die viele TherapeutInnen sich wünschen: Darüber, welches erschwerende und welches erleichternde Faktoren sind, wie also Hilfe in jedem einzelnen, immer besonderen Fall funktionieren könnte.

Anfang der 1980er Jahre aber gab es keinen auch nur halbwegs gesicherten empirischen Erkenntnisschatz. Es gab Moralvorstellungen, die einer halben Generation bestenfalls religiös, wahrscheinlich aber bloß unterdrückerisch motiviert schienen. Es gab scharfe Kritik an der Pädophilie-„Bewegung“ von seriösen Wissenschaftlern. Aber es ist nicht richtig, die damaligen Debatten über Pädophilie nach den Maßstäben zu beurteilen, die von der Forschung erst seit den 1990er Jahren zur Verfügung gestellt werden.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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