Debatte Ostdeutscher Lokalpatriotismus: Komm, mein Sachse, bleib!
Nur Billiglöhne, aber dafür das schönste Wetter der Welt: Weil die Jugend wegzieht, schwelgt die ostdeutsche Politik im Lokalpatriotismus.
Unsere Heimat – unser Wetter!“ Die magisch geraunte Formel vor jedem Wetterbericht im MDR-Fernsehen ist bislang der albernste Höhepunkt einer von niemandem offiziell inszenierten und dennoch unübersehbaren Heimatwelle Ost. Selbstverständlich kann unser Wetter in unserer Heimat nur das schönste auf der Welt sein. Aber warum wird Heimatliebe vor allem in Sachsen in zunehmender Penetranz proklamiert?
Publikationen, Ausstellungen, ein Heimatliederabend des Ex-DDR-Barden Stephan Krawczyk an den Landesbühnen Sachsen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung redet den ganzen Herbst über nichts anderes. Uwe Tellkamp, preisgekrönter Autor des Ossi-Versteherromans „Der Turm“, schwelgt als Landtagsfestredner zum Einheitstag im süßen sächsischen Gestern. An selber Stelle startet später eine von der schwarz-gelben Regierungskoalition beantragte, geradezu kindische Heimatstunde. Auch SPD-Abgeordnete diskutieren in ihren Wahlkreisen.
Wer unter dem Stichwort „Heimat“ im Netz forscht, stößt in wissenschaftlichen Beiträgen schnell auf die Formulierung „anthropologische Konstante“. Regionale Heimatverbundenheit gilt als Teil eines Grundbedürfnisses nach Sicherheit und Geborgenheit. Wenn man will, kann man dieses wiederum mit Liebestheorien Erich Fromms erklären, dem Dauertrauma der Getrenntheit des Menschen. Der Unbehauste, der Abgenabelte, der Vertriebene aus dem Paradies, sucht nach neuer Harmonie mit Mensch und Natur.
Sehnsucht nach dem Idyll
Aber dieses Plätzchen ist nie sicher. Heimat kann zur Fremde werden. Man muss nur mit Flüchtlingen über die Unerträglichkeit der Verhältnisse an den Orten ihrer Herkunft reden. Das Nomadisieren gehört keineswegs überwundenen historischen Epochen an. Radikaler Ökonomismus kollidiert zudem mit hinderlichen individuellen Bindungen. Das wusste man schon vor den Entwurzelungstheorien infolge der modernen Globalisierung.
„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“, schrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848. Die im 19. Jahrhundert aufkommende typisch deutsche Heimattümelei war der Versuch einer Antwort darauf. Die Sehnsucht nach dem Idyll bleibt, sie öffnet aber zugleich dem Missbrauch des Heimatbegriffs die Tür.
Michael Bartsch ist taz-Korrespondent im Sendebereich des MDR.
Im milderen ostdeutschen Fall meint das seine Instrumentalisierung. Anlass für die erwähnte sächsische Landtagsdebatte war eine Jugendumfrage der Dresdener Staatsregierung. Die verspürte offenbar Vergewisserungsbedarf über „ihre“ Jugend, denn parallel veranstaltete sie auch gleich ein Jugendfestival, bei dem mit Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) und zwei Ministerinnen diskutiert werden durfte.
Laut Umfrage sehen nur 45 Prozent dieser Jugendlichen die Rahmenbedingungen für die Verwirklichung ihrer Lebensziele in Sachsen als gut an. Diese alarmierende Zahl liefert das plausibelste Erklärungsmuster für die Wiederentdeckung von Heimat – vor dem Hintergrund des bereits spürbaren Fachkräftebedarfs dürfte sie ganz rationale und pragmatische Gründe haben. Wissenschaft und Forschung reden offen vom Kampf um die besten Köpfe, um Lehrer wird jetzt schon bundesweit konkurriert.
Wettlauf um die Jugend
Vor allem zeichnet sich ein Kampf um die knappe Ressource Jugend ab. Denn die erweist sich überwiegend als zeitgeistig mobil und entscheidet Lebenswege nach Attraktivitätskriterien. Die Gültigkeit von Ciceros „Ubi bene, ibi patria“ („Wo es mir gut geht, ist meine Heimat“) bekräftigten O-Töne Jugendlicher auch beim Jugendfestival. „Nur wenn die Schul-und Hochschulabsolventen in Sachsen eine berufliche Perspektive haben, werden sie auch hier bleiben“, erkannte sogar der FDP-Debattenredner Benjamin Karabinski im Landtag.
In diesem Wettlauf aber haben Sachsen und andere ostdeutsche Niedriglohnländer schlechte Karten. Hinzu kommen die schrumpfenden öffentlichen Haushalte und die damit verbundenen Probleme bei der Bildungs- oder Jugendhilfefinanzierung. Die momentane konjunkturbedingte Erholung und der erstmals sogar leicht positive Wanderungssaldo in Sachsen dürften nicht von Dauer sein. Das erwartete Manko müssen Beschwörungen des irrationalen Heimatfaktors ausgleichen, mehr gefühlt als strategisch geplant. „Jede und jeder wird bei uns gebraucht“, mahnt Sachsens Sozialministerin Christine Clauß.
Land der Frühaufsteher
Solche Appelle an irrationale Hierbleibefaktoren sind nicht neu. Gewesene DDR-Bürger können heute noch Manfred Streubels Naturforscherlied „Die Heimat hat sich schön gemacht“ singen, das Schulfach Heimatkunde hatte einen ganz anderen Klang als „Regionalgeschichte“ heute. In der großen Westabwanderungswelle der Neunziger beförderte Ministerpräsident Kurt Biedenkopf kräftig den Sachsenmythos: Ihr werdet hier zwar nicht reich, aber dafür habt ihr den unbesiegbaren Sachsenstolz. Angesichts einer aussichtslosen Angleichung an den Westen, die der jüngste „Fortschrittsbericht Aufbau Ost“ wieder bestätigte, spotten nun linke Kreise schon über „80 Prozent Westlohn und 20 Prozent Heimatliebe“.
Das Vertrauen in Heimatliebe als Surrogat scheint indessen labil zu sein, sodass immer wieder mit Heimatkonstruktionen nachgeholfen werden muss. Auch Sachsen-Anhalt mit seiner grotesken Imagekampagne als Land der Frühaufsteher gibt dafür ein weiteres Beispiel. Ende der neunziger Jahre untersuchte ein Sonderforschungsbereich „Regionenbezogene Identifikationsprozesse“ an der Leipziger Universität, wie Regionen aus politischem oder wirtschaftlichem Interesse regelrecht „gemacht“ werden.
Bodenständigkeitsappelle an die umworbene Generation aber verfangen in Zeiten hybrider Kulturen weniger. Vertrautheitsgefühle sind zunehmend an Sozialkontakte gebunden, werden eher als Menschen- denn als Ortsbindung wahrgenommen. Oder gelangen wir doch an einen Punkt, wo Mobilität und Flexibilität unsere anthropologischen Konstanten überfordern?
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