Debatte Kolonialisierung durch Westen: Eine neue Ostpolitik
Wenn die nächste Bundesregierung ein überwölbendes Projekt sucht – wie wäre es, 28 Jahre nach dem Mauerfall für echte Ost-West-Verständigung zu sorgen?
D ie Post war da! Absender eines Sechs-Seiten-Briefs ist Sachsens Noch-Ministerpräsident Stanislaw Tillich, Empfängerin die „Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela“. In seinem Schreiben mahnt Tillich im Namen aller fünf Ost-Ministerpräsidenten die Regierungschefin, sie möge beim Sondieren in Berlin doch bitte nicht die Belange der Ostdeutschen vergessen. Die Belange – man darf das nach Lektüre des Briefes so verstehen – lauten: Gib uns weiter Geld!
Diese Botschaft ist auf gleich zwei Arten ungut. Erstens, weil es die auch nicht sämtlich solventen West-Landesregierungen und deren Wähler maximal nervt, wenn die Ostler immer nur nach Kohle rufen. Zweitens, weil bei den im Brief erhobenen Forderungen die wichtigste fehlt: die nach Respekt, also eigentlich nach Interesse. Und daran mangelt es nach wie vor, auf beiden Seiten.
Wenn am Donnerstag der Jahrestag des Mauerfalls begangen wird, ist eine Art historische Tag-und-Nacht-Gleiche erreicht. Die innerdeutsche Grenze ist genauso lange wieder offen, wie sie zuvor geschlossen war. 28 Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Und doch hat sie nicht gereicht, damit die Ostdeutschen sich den Westdeutschen gleichwertig fühlen. Das ist eine verheerende Bilanz.
Abständigkeit und Misstrauen der Ostdeutschen haben sich kürzlich im Bundestagswahlergebnis manifestiert. Statt die parlamentarische Demokratie als Projekt zu begreifen, das jeden meint und zugleich fordert, wählten erschütternd viele Ostler eine rechte Partei, die ihnen nichts als Fügungsbereitschaft abverlangt. Ihr Angebot: politische und private Engführung auf der emotionalen Basis von Angst vor Veränderung.
Ostler selbst im Osten unterrepräsentiert
Das Fatale ist: Viele Ostdeutsche haben in gewissem Maße recht, wenn sie sich nicht gleichberechtigt fühlen. Ob bei den Funktionseliten, etwa in der Wissenschaft, in der Verwaltung oder im Justizwesen, oder bei der Wirtschaftskraft – fast überall sind Ostler selbst im Osten unterrepräsentiert. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, spricht in einem Interview mit der Berliner Zeitung gar von „kulturellem Kolonialismus“.
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Genau hier müssten die Ost-Ministerpräsidenten ansetzen. Es geht ihren Bürgern nämlich nicht nur um Geld, um Rentenpunkte oder gleichen Lohn. Sondern um ein Gefühl, das politisch bis heute nicht hergestellt ist. Ja, die zehn Cent weniger für die sächsische Altenpflegerin zahlen direkt auf das Konto der AfD ein. Aber nicht minder dramatisch ist dieses Wir-gegen-die-Gefühl vieler Ostler, die Opferkarte. Und der Habitus der Westler, warum die gepamperten Ostler nicht einfach so sein können wie sie.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Laut einer Studie der Universität Jena kommen in Ostdeutschland nur 13,3 Prozent der Richter auch von dort, und von 22 Hochschulrektoren sind nur 3 im Osten geboren. Keine Frage, auch die westdeutschen sind gute Fachleute. Gleichwohl fehlen ihnen ostdeutsche Sichtweisen und Lebenserfahrungen. Man darf derlei nicht unterbewerten, Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten bestimmen die Erzählungen auch der Nachgeborenen.
Das Ergebnis sind sich unterprivilegiert fühlende Bürger, die sich immer weiter vom westdeutsch geprägten Demokratieprojekt entfernen. Menschen, denen Herablassung in Form von Witzen und Desinteresse begegnet, verhalten sich irgendwann entsprechend den in sie gesetzten Erwartungen. Und: sie richten sich ein in ihrem durchsubventionierten Opferstatus. Dort kann sie Alexander Gauland dann abholen wie aus dem Bällebad bei Ikea.
Wenn es ein Projekt gibt, bei dem Jamaika zeigen könnte, was Politik vermag, dann wäre das eine Art neuer Ostpolitik, diesmal innerdeutsch. Beginnen könnte es mit konkreten Projekten. Jugendaustausch, gelebte Städtepartnerschaften, reden und zuhören. Auf beiden Seiten. Klingt lächerlich? Wäre aber dringend.
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