Debatte Große Koalition: Die Tragödie der SPD
Die Sozialdemokraten wollen sich als Partei erneuern – in der Regierungsverantwortung. Wer daran glaubt, macht sich etwas vor.
K eine Begeisterung, keine Verzweiflung. Irgendwann ist der Vorrat an Leidenschaft aufgebraucht, irgendwann ermüdet jedes Drama. Man muss ja nicht gleich so weit gehen wie die Redaktion der Talkshow „Anne Will“, die das Votum der SPD-Mitglieder souverän ignorierte und die Gäste über etwas ganz anderes diskutieren ließ, aber eine gewisse Erschöpfung ist auch andernorts zu beobachten, wenn es um den langen Weg zur Regierungsbildung geht.
Befürworter und Gegner der Großen Koalition schienen am Sonntag zumindest in einem Gefühl vereint zu sein: dem der Erleichterung. Endlich ist die Entscheidung gefallen. Endlich.
Selbstverständlich beschwören jetzt die Granden der SPD die notwendige Erneuerung der Partei – was sollen sie denn auch sonst sagen? „Prima, wir haben’s im Sack“? Das wäre eine ungewöhnlich dämliche Kommunikationsstrategie, selbst für sozialdemokratische Spitzenpolitiker. Und außerdem ist es ihnen ja vermutlich sogar ernst mit ihrer Bereitschaft zu internen Reformen.
Aber es wird nicht dazu kommen, jedenfalls nicht in dieser Legislaturperiode. Man kann nicht gleichzeitig mit einem Koalitionspartner um Kompromisse ringen und innerhalb einer Partei ergebnisoffene Grundsatzdebatten führen. Das eine schließt das andere aus. Die Basis hat die Erneuerung vertagt.
Mittelfristig könnte das für die SPD existenzgefährdend sein, und es bleibt das stärkste Argument gegen die Große Koalition – unabhängig davon, wie man grundsätzlich zu dieser Partei und ihrem Kurs steht. Der Zeitgeist in westlichen Industrienationen weht derzeit rechts, die offene Feindseligkeit gegenüber dem System der parlamentarischen Mehrparteiendemokratie wächst.
Ja, es sind durchaus schon andere Parteien, die einst stark waren, sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden. Warum also nicht auch die SPD? Vielleicht hat sie sich ja überlebt? Als ob es darum ginge. Wenn im gegenwärtigen politischen Klima die traditionsreichste deutsche Partei marginalisiert würde, dann hätte dies eine Signalwirkung, die weit über diese Partei selbst hinauswiese. Und die von Systemgegnern auch ganz genau verstanden würde. Diesen Triumph sollten sie nicht feiern dürfen. Aber die Gefahr ist mit dem Votum der SPD-Mitgliedschaft gestiegen.
Stabilität ist ein Wert an sich
Nun gibt es viele gute Gründe, die für die Bildung einer Großen Koalition sprechen. Stabilität ist ein Wert an sich, jedenfalls dann, wenn sie nicht um den Preis von Unterdrückung und Diktatur erkauft worden ist. Manche Absichtserklärungen, die im Koalitionsvertrag stehen, werden – sollten sie denn tatsächlich umgesetzt werden – das Leben vieler Leute, die nicht auf der Sonnenseite stehen, tatsächlich etwas erleichtern.
Das kann man unzureichend finden, aber es ist immerhin etwas. Das Glas ist halbvoll. Hinzu kommt, dass ein vom Parlament verabschiedeter Haushalt eine feine Sache ist. Es bekommt einem Land nicht gut, wenn der Staat keinerlei neue Investitionen tätigen darf – und das ist nach den Regeln der vorläufigen Haushaltsführung in Deutschland gegenwärtig der Fall.
Bei der Frage, ob die SPD erneut mitregieren oder in die Opposition gehen sollte, ging es von Anfang an vor allem um eine Frage: Welcher Stellenwert sollte der – von niemandem bestrittenen – Notwendigkeit des innerparteilichen Reformprozesses eingeräumt werden?
Einerseits kann sich keine Partei, die mit ihren Zielen ernst genommen werden will, darauf beschränken, Grundsatzdebatten zu führen. Wer nicht regieren will, ist an der Universität, Fachbereich Politologie, besser aufgehoben als im Parlament. Andererseits droht einer Partei der innere Zerfall, wenn sie sich wegen der Anforderungen des Alltagsgeschäfts dauerhaft den Grundsatzdebatten verschließt.
Die SPD hat bis heute keine klare Haltung zum Umbau des Sozialsystems gefunden, das zu Beginn des Jahrtausends unter Bundeskanzler Gerhard Schröder – die Älteren werden sich an ihn erinnern – unter dem Stichwort Agenda 2010 entwickelt wurde. Aber auch die CDU wirkt in steigendem Maße ratlos hinsichtlich ihres künftigen Kurses. Der weitgehend konfliktfreie Ablauf ihres letzten Parteitages war erwartbar. Und ändert daran nichts.
Die SPD hat sich mit der Entscheidung gequält
Es hängt nicht zuletzt von der Tagesform der politischen Führungsgremien einer Partei ab, welchem Ziel der Vorrang gegeben werden sollte: dem der inneren Konsolidierung oder dem der konkreten Gestaltungsmöglichkeit. Die SPD-Spitze hat unmittelbar vor dem Mitgliederentscheid ein grauenvolles Bild abgegeben. Der Absturz in den Umfragen war verdient und die Frage berechtigt, ob Leute dieses Land regieren sollten, die es nicht einmal schaffen, ihre internen Probleme sozialverträglich zu regeln.
Andererseits ließ sich auch dem Einwand schwerlich etwas entgegensetzen, dass Neuwahlen derzeit wohl ebenfalls nicht für klare Verhältnisse sorgen können. Wie immer man es drehte und wendete: Es war nichts Lustvolles in Sicht. Nirgends.
So war es, so ist es. Noch immer. Es dürfte kein Zufall sein, dass viele SPD-Mitglieder ihre Stimme erst in den letzten Tagen abgegeben haben. Sie haben sich mit der Entscheidung offensichtlich gequält, verständlicherweise. Die Atempause von fast einem Monat, in der alle nur auf den Ausgang der Abstimmung warten konnten und in der interne Machtkämpfe deshalb vorübergehend ausgesetzt waren, dürfte der Führungsspitze der Partei geholfen haben.
Die nächste Regierung wird ihre Sache nicht schlechter machen als die letzte. Es ist ja dieselbe. Aus demselben Grund wird sie ihre Sache allerdings auch nicht besser machen. Aber die Parteien der Koalition haben eine – gemeinsame – neue Herausforderung: Sie müssen bis zu den nächsten Wahlen daran arbeiten, dass die Feindseligkeit gegenüber dem System als solchem nicht weiter wächst, und dürfen dieses Ziel nicht über dem Tagesgeschäft aus dem Auge verlieren. Ach, ja. Frommer Wunsch. Vermutlich unerfüllbar – wie so viele fromme Wünsche.
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