Debatte Brexit: Ein Deal ohne Zukunft
Der Brexit-Deal ist in Großbritannien weder umsetzbar noch mehrheitsfähig. Nötig ist eine Lösung, in der sich die Parteien auf Augenhöhe begegnen.
D as Brexit-Abkommen, das ein EU-Sondergipfel in Brüssel am Sonntag gebilligt hat, ist schon ein seltsames Konstrukt. Es ist nach dem Gipfel genauso wenig beschlossene Sache wie davor, denn es muss erst noch die parlamentarische Ratifizierung durchlaufen – auf beiden Seiten. Nichts deutet derzeit auf eine Mehrheit dafür im britischen Unterhaus hin.
Großbritanniens regierende Konservative um Premierministerin Theresa May haben keine eigene Mehrheit unter den 650 Abgeordneten, und alle anderen Parteien haben schon ihr Nein angekündigt. Auch die Konservativen selbst sind gespalten: Von ihren 316 Abgeordneten sind nach aktuellem Stand 91 gegen diesen Brexit-Deal.
Um zu verstehen, wie es nach einem Nein im Parlament weitergehen könnte, ist es wichtig, die Gründe dafür zu verstehen. Es geht nicht einfach um nölende Brexit-Fundamentalisten, denen der Bruch mit Europa nicht klar genug ist. Es geht vielmehr darum, dass das Abkommen eine in den internationalen Beziehungen einmalige Sondervereinbarung enthält.
Danach könnten in Großbritannien auch nach dem Brexit Ende März 2019 und dem für frühestens Ende 2020 vorgesehenen Ende der Übergangszeit sämtliche EU-Regelungen in zentralen Politikbereichen einfach weitergelten: die EU-Außenhandels- und Zollregeln, die EU-Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards, die Regeln über Steuerkooperation, Finanzregulierung, Klimapolitik und staatliche Beihilfen.
Komplette Angleichung der Wirtschaftspolitik
Dies ist der sogenannte „backstop“ für Nordirland, der in Abwesenheit eines neuen Freihandelsabkommens in Kraft treten soll. Eigentlich sollte er nur die Einführung von Grenzkontrollen zur Republik Irland verhindern. Die EU nutzt ihn jetzt aber als Hebel zur kompletten Angleichung der britischen Wirtschaftspolitik: Damit es nirgends irgendwelche Kontrollen geben muss, gibt es nirgends unterschiedliche Regeln.
Durchgesetzt werden soll das in Großbritannien von einer in Vertretung der EU-Kommission handelnden, allein dieser rechenschaftspflichtigen „unabhängigen Autorität“. Enden kann es nur im beiderseitigen Einvernehmen.
Das ist der sogenannte „Vasallenstatus“ Großbritanniens, von dem sogar Brexit-Befürworter sagen, dieser Deal sei noch schlechter als ein Verbleib in der EU. Denn die EU-Regeln, die weiter in Großbritannien gelten sollen, sind die zum Ende der Übergangszeit – eine Übergangszeit von Ende März 2019 bis Ende 2020, in der London nicht mehr wie bisher in Brüssel mit am Tisch sitzt. Gerade in den relevanten Politikfeldern ist die EU aber in der Regel Lobbyinteressen hörig, von Emissionsstandards für Autos über die Zulassung von Pestiziden. Wer da nicht mitreden kann, hat schon verloren.
Nehmen wir ein gar nicht so weit hergeholtes Beispiel: Ein Start-up in einem englischen Technologiecluster entwickelt in den nächsten Jahren leistungsfähigere Elektromotoren als die schwerfällige deutsche Konkurrenz und erwägt, diese in Asien in Serie herzustellen. Die (von der deutschen Autoindustrie bestimmten) EU-Regeln in diesem Bereich umfassen dieses Produkt aber nicht, und Großbritannien hat keine Handhabe, das zu ändern. Die EU könnte ein solches Produkt also sogar vom britischen Markt fernhalten.
Selbstkastration
Selbst wenn die britischen Parlamentarier in einem Anflug geistiger Umnachtung eine solche Selbstkastration billigen würden, bliebe die praktische Anwendung ein Rätsel. Mit dem Brexit erlischt nämlich die automatische Gültigkeit von EU-Recht in Großbritannien – nichts anderes bedeutet ja die Aufkündigung der Mitgliedschaft. Das bereits beschlossene britische EU-Austrittsgesetz hat dies abschließend geklärt.
Das heißt aber auch: In Zukunft sind EU-Regeln nicht mehr automatisch britisches Gesetz. Ihre nationalstaatliche Entsprechung muss neu geregelt werden. Entweder also muss das Londoner Parlament die Übertragung zukünftigen fremden Rechts auf das eigene Hoheitsgebiet pauschal ermöglichen, ohne nationale Prüfung. Das aber wäre wohl nicht nur in Großbritannien verfassungswidrig. Oder es muss jedes Mal ein neues britisches Einzelgesetz beraten – so würden jedes Mal die Brexit-Debatten, die derzeit die britische Politik zerreißen, wieder neu aufgerollt werden. Keine Regierung könnte das lange überleben.
Die Fallstricke des Brexit-Deals sind also noch viel zahlreicher als die aktuell ungünstigen Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus. Das Verfahren ist jetzt schon kompliziert genug. Die derzeit für den 10. Dezember geplante Abstimmung im Unterhaus ist nämlich keine einfache Ja-Nein-Abstimmung, nach der das Brexit-Abkommen entweder gilt oder stirbt.
Eine „bedeutungsvolle Abstimmung“
Es findet – das haben ausgerechnet die Brexit-Gegner bei den Konservativen im Frühsommer durchgesetzt – eine „bedeutungsvolle Abstimmung“ (meaningful vote) statt, in der die Parlamentarier sich das weitere Vorgehen vorbehalten. Wenn sie das Abkommen durchfallen lassen, können sie die Regierung zwingen, einen Vorschlag über das weitere Vorgehen zur Abstimmung zu stellen – hier kommen Optionen wie ein neues Referendum, ein Antrag auf Verlängerung der Austrittsfrist bei der EU oder Neuverhandlungen ins Spiel.
Alles kann sich monatelang hinziehen. Bei Neuverhandlungen mit Verschiebung des Brexit ist zu bedenken, dass im Mai 2019 das EU-Parlament neu gewählt wird und dann möglicherweise ganz andere Mehrheitsverhältnisse und eine neue EU-Kommission herrschen.
So oder so: Dieser Deal hat keine Zukunft. Ohne Einigung auf etwas anderes aber tritt Großbritannien am 29. März automatisch aus der EU aus – ohne Abkommen, „no deal“. Hinter den Kulissen sollen bereits Gespräche mit Brüssel im Gange darüber sein, wie man sich über „no deal“ ganz pragmatisch verständigt. Hier, in Kooperation auf Augenhöhe, und nicht in hochmütigen Wolkenschlössern, liegt der Schlüssel dafür, wie die ganz große Krise abgewendet werden kann.
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