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Debatte Asyl für Gülen-nahe FunktionäreWo Erdoğan Recht hat

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Angesichts des autokratischen türkischen Präsidenten neigen viele Deutsche zu Vereinfachungen – etwa bei der Wahrnehmung der Gülen-Sekte.

Alles spricht dafür, dass die Sekte von Fethullah Gülen beim Putschversuch eine tragende Rolle spielte Foto: dpa

F ür manchen Leser in Deutschland mag es sich wie eine Provokation anhören, aber es ist trotzdem richtig: Nicht alles, was der türkische Präsident sagt, ist von vornherein falsch.

Es gibt in Deutschland derzeit wohl keinen Politiker, der in weiten Teilen der Bevölkerung so verhasst ist wie Recep Tayyip Erdoğan. Es stimmt, Erdoğan tut alles dafür, sich unbeliebt zu machen, und die Kritik an seinem zunehmend totalitären Verhalten als Präsident ist vollkommen berechtigt.

Doch diese Stimmung in Deutschland verführt auch dazu, es sich allzu einfach zu machen und alles, was Erdoğan für richtig erklärt, automatisch für falsch zu halten. Das lässt sich an zwei Punkten gut festmachen. Das ist zum einen die Kritik Erdoğans am Umgang der Europäischen Union mit der Türkei und zum anderen die unterschiedliche Analyse darüber, wer hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 steckt.

Beginnen wir mit der EU. Nach dem Motto, jetzt reicht es aber wirklich, hat SPD Kanzlerkandidat Martin Schulz in seinem TV-Duell mit Merkel die Stimmung von mehr als 80 Prozent aller Wähler in Deutschland aufgegriffen und ankündigt, er als Bundeskanzler würde die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei endgültig abbrechen. Das Ganze ist selbstverständlich dem Wahlkampf geschuldet, zeigt aber auch, wie Mainstreamdenken zu politischen Dummheiten verleitet.

Verschleppte Verhandlungen

Einmal besteht innerhalb der EU keine Chance, ein notwendiges einstimmiges Votum zum Abbruch der Beitrittsverhandlungen herzustellen, was lediglich dazu führt, dass Erdoğan propagandistisch ausschlachten kann, wie isoliert die Bundesregierung in Europa dasteht. Außerdem, und das ist viel alarmierender, demonstrieren sowohl Schulz wie Merkel, wie sehr ihnen die demokratische Opposition in der Türkei egal ist, die durch die Bank gegen den Abbruch der Verhandlungen argumentiert.

Darüber hinaus hat Erdoğan Recht, wenn er der EU vorwirft, sie hätte im Verlauf des jahrzehntelangen Prozesses der Annäherung der Türkei an Europa nie wirklich die Absicht gehabt, die Türkei in ihre Reihen aufzunehmen. Sei es aus religiösen und kulturellen Gründen, sei es aus machtpolitischen Erwägungen: Immerhin würde die Türkei mit 80 Millionen Einwohnern die gesamte Machtbalance in Brüssel erschüttern. Der Vorwurf, gegenüber der Türkei falschgespielt zu haben, gilt insbesondere für Angela Merkel, die sofort, als sie die Regierungsgeschäfte 2005 von Gerhard Schröder übernommen hatte, begann, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf allen Ebenen systematisch zu sabotieren.

Unter den nach Deutschland geflüchteten Gülen-Leuten sind auch solche, die den Schutz hier nicht verdienen

Der zweite, noch gravierendere Grund für die Krise ist die unterschiedliche Einschätzung des Putschversuchs im vergangenen Jahr. Ja, es ist richtig, wenn die Bundesregierung Erdoğan vorwirft, den Putschversuch für die Durchsetzung seines autoritären Präsidialsystems zu instrumentalisieren. Doch es ist falsch zu sagen, es hätte nie einen Putschversuch gegeben, das war alles allein eine große Inszenierung.

Wir wissen bis heute nicht genau, was in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 passiert ist. Aber alles spricht dafür, dass die Gülen-Sekte bei dem Putschversuch eine tragende Rolle gespielt hat. Davon ist nicht nur Erdoğan überzeugt, sondern auch die gesamte Opposition und wohl mindestens 90 Prozent der Bevölkerung. Selbst ein so kritischer Geist wie der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat kürzlich in einem Interview erklärt, nach Sichtung allen vorhandenen Materials sei er ebenfalls überzeugt, dass die Gülen-Sekte für den Putschversuch zumindest mitverantwortlich ist.

Erstaunliche Selbstgerechtigkeit

Wenn dann der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, in einem Spiegel-Interview kategorisch erklärt, die Gülen-Sekte sei vollkommen unschuldig, sie sei lediglich „eine zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung“, dann zeugt das schon von einer erstaunlichen Selbstgerechtigkeit. Der Mann hat entweder keine Ahnung oder er schützt die Gülen-Sekte mit Absicht.

Genau die zweite Interpretation hat sich in der türkischen Öffentlichkeit längst festgesetzt, und leider tut die Bundesregierung alles, um die türkische Propaganda, sie schütze die Sekte, zu unterfüttern. Man muss nicht Erdoğans Definition von der „Terrororganisation FETÖ“ übernehmen, aber man sollte nicht in die Haltung verfallen, nur weil Erdoğan bestimmte Leute anklagt, seien sie automatisch unschuldig.

Unter den nach Deutschland geflüchteten Gülen-Leuten sind definitiv auch solche, die den Schutz hier nicht verdienen. Nehmen wir zwei Beispiele: der frühere Chefankläger Zekeriya Öz und der Gülen-Imam Adil Öksüz. Von beiden fordert die Türkei die Auslieferung, bei beiden stellt sich die Bundesregierung taub.

Schutz für Schuldige?

Zekeriya Öz ist der Sonderstaatsanwalt, der in den Jahren 2008 bis 2012 im Auftrag der Gülen-Sekte und zur Freude Erdoğans reihenweise Kritiker der Regierung, darunter viele Journalisten, mit konstruierten Anklagen völlig unschuldig in den Knast brachte. Er persönlich war es, der den bekannten Investigativjournalisten Ahmet Şik 2010 ins Gefängnis brachte wegen eines kritischen Buchs über die Gülen-Sekte, in dem genau beschrieben wurde, wie die Sekte den Staat unterwanderte.

Jetzt ist Öz in Deutschland, weil er im entscheidenden Machtkampf zwischen der Sekte und Erdoğan auf der falschen Seite stand, aber ein unschuldiger Demokrat ist er keineswegs.

Genauso der Gülen-Imam Adil Öksüz, der vermutlich in der Putschnacht im Hauptquartier der Putschisten die Anweisungen von Fethullah Gülen weitergab und sich dann ins Ausland absetzte.

Es ist wahrscheinlich richtig, beide dennoch nicht auszuliefern, weil sie in der Türkei kein fairer Prozess erwartet. Aber sich öffentlich so vor die Gülen-Sekte zu stellen, wie es der BND-Chef sicher nicht ohne Kenntnis der Kanzlerin getan hat, nährt nur die Verschwörungstheorie, letztlich seien Deutsche und Amerikaner diejenigen gewesen, die den Putsch in Auftrag gegeben hätten. Solange die Bundesregierung das nicht korrigiert, wird sie in der türkischen Öffentlichkeit, auch jenseits der Erdoğan-Anhänger, nicht mehr durchdringen können.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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37 Kommentare

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  • Es ist allzu verwunderlich, wie der Autor des Artikels "Wo Erdogan Recht hat" mit Pauschalisierungen um sich wirft und gleichzeitig beklagt, dass der türkische Machthaber diesen zu Unrecht ausgesetzt ist.

     

    Da werden Menschen, die sich in der von Fethullah Gülen inspirierten Hizmet-Bewegung engagieren, pauschal zu Sektenmitgliedern erklärt.

     

    Da wird von mindestens 90% der türkischen Bevölkerung gesprochen, die einer Meinung darüber sein sollen, dass die Gülen-Bewegung Drahtzieher des Putschversuchs war. Dabei wurde wohl übersehen, dass Gülen selbst von Anfang an eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse forderte, um Klarheit darüber zu schaffen!

     

    Da wird Bruno Kahl, dem BND-Chef, Ahnungslosigkeit oder reiner Schutzgedanke unterstellt, wenn er zu dem Urteil kommt, die Gülen-Bewegung betreibe als zivile Vereinigung säkulare und religiöse Weiterbildung und sei nicht für den Putsch verantwortlich.

     

    Da werden zu guter Letzt noch zwei Fälle von Menschen, denen Deutschland Schutz gewährt, angeführt. Es handle sich hierbei um solche Personen, so der Autor, "die den Schutz hier nicht verdienen". Allerdings räumt Herr Gottschlich dann doch ein, dass "Es [...] wahrscheinlich richtig [ist], beide dennoch nicht auszuliefern, weil sie in der Türkei kein fairer Prozess erwartet." Na was denn nun, berechtigter Schutz oder unberechtigter?

     

    Da wird eine differenzierte Betrachtungsweise gefordert, aber der Autor selbst bleibt sie schuldig.

  • Ich bin erschüttert. In der Türkei werden 60.000 Menschen ohne Grund verhaftet. Tausenden von Unternehmern wird alles weggenommen. 600 Babys und 17.000 Frauen sind im Gefängnis. 150.000 Menschen haben ihren Job, ihre Wohnung verloren. Sie sind gebrandmarkt und dürfen nicht einmal als Reinigungskraft arbeiten. Sie bekommen keine Wohnungen. Medienhäuser werden geschlossen und auf Linie gebracht, Journalisten werden einfach so verhaftet. Es sind also genozidartige Zustände! Und das alles ohne Beweise, ohne Urteil!

     

    All das kann man doch nicht einfach beiseite kehren, wegen zwei Personen? Jürgen Gottschlich mach sich mit seinem taz Beitrag "Wo Erdoğan Recht hat" noch unglaubwürdiger als er ohnehin schon war. Ich bin erschüttert über die menschliche Kälte.

    Seine Begründungen sind auch ein Armutszeugnis. 90 % der Bevölkerung seien davon überzeugt... Diese 90% sind auch davon überzeugt, dass Deutschland ein Nazi-Land ist und das Merkel als Nazi dieses Land regiert, dass Armenier auszurotten sind, dass Kurden keine Rechte bekommen sollten, dass der Westen die Türkei zerstören will...

    Ein trauriger Beitrag in einer dunklen Zeit.

  • Erdogan versus Gülen. Zumindest unter den Nichttürkischstämmigen blickt doch da keiner durch. Beide sind religiöse Spinner, die an irgendwelche höheren Wesen glauben. Welcher von beiden ist der Gute, welcher der Böse? Bei Erdogan weiß man, dass er wohl eher nicht der Gute ist. Bei Gülen weiß das nicht mal der Verfassungsschutz.

     

    Der Diskussion über Gülen mangelt es an Wissen über Gülen. Mag ja sein, dass der Putsch von Gülen iszeniert wurde - aber von den Gülen-Anhängern? In d soll es 100.000 davon geben. Ich halte diese - wie alle Religiösen - für Spinner. Aber religiöse Spinnerei wird bei uns vom GG geschützt - sollen sie also weiter spinnen. Ohne konkreten Tatvorwurf sollte es in d keinen Generalverdacht gegen Gülen-Anhänger geben.

  • Kann man Erdogan recht geben und ihn dennoch ablehnen? Und ob!

     

    Wo er im Recht ist und die Finger in unsere Wunden legt, können wir ruhig aufstöhnen. Glaubwürdig wird er jedoch erst, wenn er die Fähigkeit entwickelt, auch in sich selbst hinein zu sehen. So fehlt ihm, was einen Politiker vom Staatsmann unterscheidet: "Der Politiker denkt an die nächste Wahl - der Staatsmann denkt an künftige Generationen." Dazu gehört eine Menge selbstkritisches Denken, Weitsicht, Einsicht und die menschliche Größe, Anderer Recht anzuerkennen, sowie auch ab und an selbst den Rückwärtsgang einlegen zu können, sich zu korrigieren und eigenes Fehlverhalten einzuräumen.

     

    Mit Steinen zu werfen, wenn man wie er selbst im Glashaus sitzt, kommt nur bei unkritischen Anhängern gut an, überzeugt aber nicht einen einzigen kritischen Geist mehr.

     

    Auch hier geschieht zwangsläufig das, was uns Menschen ausmacht. Je mehr er diese "Hefe der Kreativität" bekämpft, desto mehr neue kritisch Denkende bringt sein Handeln hervor.

  • Wenn so ein Putsch von den bewährten Miet-Revolutionären OTPOR/CANVAS angeleiert wird und im Sinne der westlichen Wertegemeinschaft auf dem Maidan in Kiew oder in Südamerikanischen Ländern stattfindet, hat man hier ja auch kein Problem damit.

    • @Khaled Chaabouté:

      Ach ach. Na, wieviel zahlt Ihnen als Mietkommentarschreiber denn der Kreml?

       

      Wie, nicht mehr als den Maidan-Demonstranten? Sie schreiben so einen Stuss also ganz umsonst? Schön blöd.

    • @Khaled Chaabouté:

      Sie meinen Putin? warum nennen Sie den Mann nicht beim Namen?

      • @Grisch:

        Früher hieß es von solchen wie Ihnen immer: "Wenn es Dir hier nicht passt, geh’ doch nach drüben!"

  • Meine Güte, was geht denn in den Kommentaren hier ab? Hysterie, haltlose Verschwörungstheorien, bis hin zu persönlichen Unterstellungen gegen den Autor... man kommt sich vor wie unter Erdogan-Fans.

     

    Die Mär vom inszenierten Putsch hält sich hartnäckig, auch wenn es dafür nicht ein einziges belastbares Indiz gibt. Na klar gab es die Listen, nach denen danach die Verhaftungen vorgenommen wurden, schon vorher - die Repression war ja schon vorher im Gange, und es war auch so geplant, sie weiter zu verschärfen. Mit dem Putsch haben die Gülen-Sekte und Reste der alten säkularen Militärelite ja versucht, die Repression abzuschütteln bzw. umzukehren. Das Scheitern gab Erdogan dann die Gelegenheit, Tempo und Intensität der Repression zu Erhöhen. Er hat den Putsch genutzt, aber dass er ihn inszeniert hätte, ist abwegig. Fragt sich denn niemand, der sich dieser Verschwörungstheorie hingibt, warum Erdogan feindlich gesonnene Militärs ihn bei so einer Inszenierung unterstützt haben sollen, nur um danach für lange Zeit im Knast zu verschwinden?

     

    Dafür, dass die Gülen-Sekte maßgeblich hinter dem Putsch steht, gibt es dagegen durchaus Indizien, auch wenn dank der nicht gerade auf Wahrheitsfindung bedachten Erdogan-Justiz - sonst müsste man ja am Ende auch das enge Bündnis zwischen Erdogan und Gülen bis 2013 beleuchten - Vieles weiter unklar ist. Es ist schon klar, dass man auch Putschisten und Gülen-Funktionäre nicht einfach ausliefern kann. Aber dann sollte man ihnen in Deutschland den Prozess machen, genauso wie den Handlangern des Regimes - in Herrn Öz und Anderen ist gleich beides verkörpert.

     

    Kurzum: Herr Gottschlich hat mit jedem Wort recht.

    • @Earendil:

      "Er hat den Putsch genutzt, aber dass er ihn inszeniert hätte, ist abwegig."

       

      Wenn er aber vor Ausbruch davon gewusst hat, und das können Sie gewiss nicht ausschließen, dann ist Erdogan Akteur einer Inszenierung ganz besonderer Art und alles das was daraus folgte, einfach abartig.

      Jeden Zweifel als haltlose Verschwörungstheorie abzutun, das sollten Sie mit Beweisen untermauern, nicht auch noch mit Indizien, auf der Zweifel idR nunmal beruhen.

       

      "Fragt sich denn niemand, der sich dieser Verschwörungstheorie hingibt, warum Erdogan feindlich gesonnene Militärs ihn bei so einer Inszenierung unterstützt haben sollen, nur um danach für lange Zeit im Knast zu verschwinden? "

       

      Für die von mir nicht behauptete, aber in Betracht kommende "Verschwörungstheorie", der Erdogan wusste im Vorab davon, setzt nicht voraus, dass die Putschmilitärs mit Erdogan verbandelt sein könnten, sondern dass es vll einen Verräter unter ihnen gab, der Erdogan vorwarnte. Ist die Annahme so abwegig, Erdogan wusste davon vorher, bzgl dem großen Nutzen, den er erst mit dem Ausbruch des Putsches erlangen konnte?

      Er schuf vll Tatsachen, ohne diese er gegen Gülen nicht hätte so vorgehen können. Ich traue es ihm zu.

      • @lions:

        "Wenn er aber vor Ausbruch davon gewusst hat, und das können Sie gewiss nicht ausschließen, dann..."

         

        Wenn Frau Merkel aber vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz davon gewusst hat, und das können Sie gewiss nicht ausschließen, dann... na, merken Sie was? Sie müssen Anhaltspunkte vorlegen, wenn Sie solche wilden Theorien verbreiten (oder zumindest in Betracht ziehen), nicht andere etwas ausschließen!

         

        Erdogans Verhalten unmittelbar in den Stunden des Putsches gibt m.E. keinen Anlass anzunehmen, er habe vorab etwas Konkretes gewusst. Und auch sonst gibt es halt keine belastbaren Anhaltspunkte dafür. Dass Sie ihm sowas zutrauen, ist jedenfalls keiner. Zutrauen würde ich ihm das und Anderes auch - aber zutrauen kann man auch der Gülensekte einen Putschversuch, ohne dass Erdogan davon vorher wusste. Und das ist halt die wahrscheinlichere Version.

        • @Earendil:

          Und außerdem:

          "Für die von mir nicht behauptete, aber in Betracht kommende "Verschwörungstheorie", der Erdogan wusste im Vorab davon"

           

          In einem anderen Kommentar schreiben Sie:

          "so bin ich mir sicher, Erdogan wusste ob des schnellen Verlaufs der Niederschlagung schon vorher bescheid."

           

          "Bin mir sicher" klingt allerdings eher nach "verbreiten" als bloß nach "in Betracht kommen"...

          • @Earendil:

            Bei dem was und wie Sie es mit Vehemenz vertreten, ist es an der Zeit, nun mal Beweise vorzulegen: Ansonsten bewegen Sie sich in dem Nebel der Annahmen wie alle anderen auch.

             

            Und Ihr Vergleich mit Merkel zeigt; Ja, ich merke etwas... dass Ihnen wohl jegliche Fähigkeit zur Relativierung zu fehlen scheint. Eine Merkel wird nicht das Volk gegen Panzer schicken, um das zu verteidigen, was Erdogan jetzt als ehrbare Staatsführung bezeichnet. Das ist mir mein Zutrauen doch ganz viel wert.

  • Hier wird wieder der Fehler gemacht, den Flüchtlingsstatus als Gnade zu sehen, die man willkürlich wieder entziehen könnte. Niemand mag Zekeriya Öz, aber nur wenn er in bewaffnete Kriegsverbrechen verwickelt war, könnte ihm nach der Genfer Flüchlingskonvention der Flüchtlingsstatus versagt werden. Und in diesem falschen Rechtsverständnis, das fast alle Türken teilen, liegt die eigentliche Krux: Nein, nur weil Erdoğan ein guter Mann ist, ist es nicht okay, dass er die Gewaltenteilung abgeschafft und die Verfassung geschleift hat. Nur weil die Gülen-sekte tatsächlich am Putsch maßgeblich beteiligt war, ist es nicht in Ordnung, dass ihre Mitglieder fast ohne Beweise verurteilt werden und monatelang ohne Anklage in Untersuchungshaft schmoren. Die Türken kennen Putsche in- und auswendig, einschließlich der vielen Toten. Was sie noch nicht kennen, ist der jahrelange Mehltau einer totalitären Diktatur, die zu einem großen Krieg drängt. Damit haben wir Deutsche mehr Erfahrung.

  • Die Tatsache, dass der "Putsch" ruckzuck vorbei war, lässt doch gut an der Ernsthaftigkeit des Anliegens zweifeln, oder?

    • @reblek:

      Man wird Ihnen entgegenhalten, dass Erdogan schon von den Plänen vorher wusste und der Putsch dadurch ein Sturm im Wasserglas wurde. Ist aber auch nur eine Version und ja, jeder Mensch mit gesundem Verstand muss hier Zweifel hegen. Erdogan ist auch von jüngsten Geschehnissen bekräftigt zweifelsfrei ein durchtriebener Stratege, und alles Schlechte was man Gülen auf den Leib schreiben kann, passt auch auf Erdogan. Kopfschüttel über des Autors Leichtigkeit!

      • @lions:

        Der Autor lebt mit Familie in der Türkei. Vielleicht liegt da der Grund für seine schwindelerregende Wandlung.

        • @Kunz:

          Ja möglich. Was mich vor allem stört: Ist es möglicherweise der Putsch der Gülen-Anhänger gewesen, so bin ich mir sicher, Erdogan wusste ob des schnellen Verlaufs der Niederschlagung schon vorher bescheid. Dann hat er gewähren lassen. Somit ist es auch sein Putsch gewesen; Erdogan nahm viele Tote absehbar in Kauf und schickte die Menschen gegen das Militär auf die Straße. Es wäre nicht minder verwerflich, als man die Putschisten selbst beurteilen müsste. Diesen Aspekt hat Herr Gottschlich dabei gar nicht bedacht. Es wäre die Inszenierung eines Putsches aus der zweiten Reihe, weil er den Putsch zuließ. Dass das nicht in Betracht kommt, auch nicht bei der Opposition, nährt den Verdacht, dass in einem Klima der Angst eine unbewusste Gleichschaltung schon vorhanden ist; Gülen hin oder her.

          • @lions:

            Dazu: Einem wachen Geist kann dabei nicht wohl sein, mit Blick auf das, was nun offenbar einhellig in der Türkei auf dem Tisch zu liegen scheint, und dabei sollte man sich auch nicht auf einen Nobelpreisträger berufen, wo doch der Preis mit Blick auf eine Trägerin in Myanmar gerade wieder arg an Wert verloren hat.

  • Differenzierte Betrachtung tut weh; und es sinnvoll darauf hin zu weisen, dass da keine Heiligen ihre Tentakel ausfuhren.

     

    Dennoch möchte ich glauben (ich gestehe meine naivität) dass ein militärischer Versuch unternommen wurde, die ursprüngliche Verfassungssituation wieder herzustellen.

    Aber das ging in einer Gemengelage vieler gegensätzlicher Interessen (gemäß der Gesetz der Polykausalität) unter.

    Bemerkenswert erscheint mir dabei, wie wenig präsent am folgenden 20.Juli in den Medien die sonst überzelebrierten Erinnerungen an die Märtyrer desselben fehlten...

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Das Grundrecht auf Asyl darf niemals willkürlich aufgrund der eigenen politischen Ambitionen aufgehoben werden, seien diese auch noch so gut gemeint! "Gut gemeint" ist oft das Gegenteil von "gut".

     

    Der "Reis" (Boss, Chef, (An-)Führer) vom Bosporus will all seinen Feinden "die Köpfe abhacken", es gibt da kein wirkliches Recht mehr, wo ein Öz sein Unwesen treiben kann und sein untreuer Schutzpatron deswegen an die nahezu absolute Macht kommt.

    Dorthin darf ihn der deutsche Staat nicht ausliefern, der Versuch hielte nicht einmal der ersten Berufung stand.

     

    Das eigentliche Problem ist doch eher, dass die PKK trotz allem türkischen Staatsterror immer noch verboten ist und dass der Reis die Kurden in Syrien bekämpft, mit freundlicher Unterstützung des deutschen Innenministers, der die kurdisch-demokratische Befreiungsarmee YPG zur Terrorgruppe erklärt hat. Es sind halt Sozialisten. Vor einiger Zeit waren das Medienhelden, die auch die Jesiden beschützt haben und die bewaffneten Frauen, die den IS bekämpfen, jetzt plant das NATO-Mitglied Türkei gerade den Großangriff gegen kurdische Städte (Afrin). http://www.huffingtonpost.de/2017/08/28/erdogan-syrien-krieg_n_17850482.html

     

    Ein mit der YPG sympatisierender Linker wurde unter Terrorhelferanklage gestellt.

     

    Solidarität mit den Kurden in Syrien!?

    Nicht dass ich das Falsche schreibe und dann Terrorist bin.

     

    Wo der Feind steht, zeigt der "christliche" Innenminister (Möchtegern-Reis) diese Tage sehr deutlich, in der LVZ hat er auch schon Pogromstimmung gemacht, die so genannten Linksradikalen sollen aus Connewitz vertrieben werden, sonst mache das Schule und der Untergang des Abendlandes sei gekommen.

    Karl Ernst Thomas de Maizière weiss - wie die LVZ - nicht einmal, dass es in Connewitz keine besetzten Häuser zum Räumen mehr gibt, sondern legale Hausvereine und eine alternative Wohngenossenschaft.

     

    Die Nazibanden, die meinen Wohnort erst paramilitärisch geschlossen überfallen haben, werden de Maizière für seinen Zuspruch danken.

    • @85198 (Profil gelöscht):

      Was ist LVZ?

      • 7G
        74450 (Profil gelöscht)
        @Achtsamer:

        Leipziger Volkszeitung?

  • Ich habe nicht viel Ahnung von der türkischen Gesellschaft und Politik.

     

    Aber manchmal mag doch schon der einfache erste Blick reichen um grob einzuschätzen, was gespielt wird:

     

    Da gibt es also einen Putsch - und kurze Zeit später - sind zigtausende verhaftet, suspendiert, ihrer Ämter enthoben, Sender und Zeitungen geschlossen und/oder unter Kontrolle gestellt???

     

    Sorry Leute, da kann mir niemand erzählen, dass da nicht Erdogan seine Hände im Spiel hat.

     

    Die Listen waren alle schon parat und der Putsch war der "Reichstagsbrand" den der kleine Diktator dringend benötigte, um ein großer Diktator zu werden.

     

    Egal, was vorher mit der EU war (ich kann es nicht einschätzen), hier gibt es nichts, wo sich Erdogan in irgendeinem Recht befindet. Er hat die Türkei auf einen sehr schlechten Weg gebracht und um Jahrzehnte zurückgeworfen.

     

    Dieses Land wird von mir boykottiert.

  • Offensichtlich ist es auch für Journalisten der TAZ genauso schwer wie für mich als irgendein Bürger der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Ansonsten könnten wir mehr Informationen hier lesen. ' ... alles spricht dafür, dass die Gülen-Sekte bei dem Putschversuch eine tragende Rolle gespielt hat.' Was ist 'alles'? Woher wissen wir, ob Gülen hinter dem Putsch steckt oder nicht! Ich kenne nur ein konkretes Argument dass hinter dem Putsch die Spießgesellen von Erdogan stehen: Die superschnelle Reaktion der Regierung nach dieser historischen Nacht. Niederschlagung, Verhaftung Tausender ... Weitere Vermutungen habe ich schon oft gelesen, aber Beweise fehlen für beide Meinungen! Ob die Türkei wirklich als Mitglied der EU für die anderen in Europa einen Vorteil hätte, stelle ich in Frage. Man kann an die internationale Solidarität appellieren, aber dann kann auch Neuseeland auf der anderen Seite der Weltkugel 'europäisch' werden. Ein kleiner Zipfel der Türkei liegt auf dem europäischen Kontinent.

    • @fvaderno:

      100% Zustimmung

  • Schutz für Schuldige?

     

    Schwer zu sagen wer inzwischen von der Gülen Bewegung oder von der AKP alles schuldig ist und hier in Deutschland lebt.

     

    Es sind auf jeden Fall zu viele...

  • Wir alle wissen, dass Tayyip und Gülen Spießgesellen waren und gemeinsam die kemalistischen Machtstrukturen zerschlagen haben. Dann brachten Gülen-nahe Staatsanwälte eine gigantische Korruptionsaffäre im engsten Erdogan-Umfeld ans Licht, Stichwort Schuhkartons, und seither bekämpft Tayyip die Gülenisten, mit denen er groß geworden ist. Und nun? Sollen wir dem einen Schurken gegen den anderen helfen? Es dürfte ja wirklich so sein, dass "FETÖ" in die Ereignisse vom Juli 2016 verwickelt ist. Aber ebenso wahrscheinlich ist, dass das Erdogan-Regime vorher Bescheid wusste und den Schaden nicht begrenzt hat. Im Erfolgsfall hätte der Putsch die Reste der türkischen Demokratie beseitigt. Nun hat das Regime das selbst erledigt. Und jetzt sollen wir uns auf seine Seite schlagen? Herr Gottschlich, das kann doch nicht Ihr Ernst sein.

    • @Kunz:

      da sollten Sie noch eimal nachlesen, genau das meint der Artikel nicht.

  • "Nehmen wir zwei Beispiele: der frühere Chefankläger Zekeriya Öz und der Gülen-Imam Adil Öksüz. Von beiden fordert die Türkei die Auslieferung, bei beiden stellt sich die Bundesregierung taub."

     

    An Erdogan ausliefern? Und das als Forderung in der taz?

     

    Gülen mag ein Verbrecher sein. Erdogan nicht?

     

    Hier streiten sich mit Erdogan und Gülen zwei Islamisten. Sollen sie sich streiten - was geht es uns an. Aber selbst Verbrecher liefert man nicht an ein verbrecherisches Regime aus, wenn rechtsstaatliche Prinzipien in der staatlichen Strafverfolgung nicht mehr gegeben sind.

     

    Ein islamischer Staat - wie die Türkei - gehört nicht in die EU. Für die sind wir Ungläubige. Mir sind die im Gegenzug zu gläubig. Die EU hat bestimmte gesellschaftliche Gruppen in der Türkei nicht gegen die gewählte Regierung zu unterstützen. Die Türken sollen ihre Probleme ohne Einmischung von außen selbst lösen.

    • @A. Müllermilch:

      "An Erdogan ausliefern? Und das als Forderung in der taz?"

       

      Ich weiß, das ist unter Rechten nicht üblich, aber trotzdem: Wär's nicht manchmal besser, einen Artikel zu Ende zu lesen, bevor man ihn kommentiert?

      Zitat: "Es ist wahrscheinlich richtig, beide dennoch nicht auszuliefern, weil sie in der Türkei kein fairer Prozess erwartet."

       

      "Die Türken sollen ihre Probleme ohne Einmischung von außen selbst lösen."

       

      Und wieder die nationale antisozialistische Unsolidarität. Natürlich muss eine Lösung in erster Linie innerhalb der Türkei erwachsen, aber ebenso natürlich ist es richtig, demokratische und linke Kräfte in der Türkei zu unterstützen. Wenn Deutschland und die EU sich mehr darauf und weniger auf Diktatoren-Bussibussi konzentrieren würde, wäre schon was gewonnen.

       

      "Für die sind wir Ungläubige."

      Ach ja, Differenzierung ist bei Rechten ja auch verboten. Also außer bei Deutschen. Türken sind dagegen "die", nämlich alles Islamisten. Ach ach.

      • @Earendil:

        "Und wieder die nationale antisozialistische Unsolidarität."

         

        Den Schuh muss ich mir nicht anziehen. Die Überzeugung fremden Völkern nicht eigene Werte "nahebringen" zu wollen ist weder rechts noch Nationalismus noch hat es irgendwas mit "Antisozialismus zu tun".

         

        Es folgt schlicht aus der Erkenntnis, dass solcher Wertetransfer nahezu immer gescheitert ist.

         

        Bestes Beispiel ist Afghanistan. Von SPD und Grünen sicher gut gemeint - aber grandios gescheitert und deswegen falsch. Man muss solche Fehler im Verhältnis zur Türkei nicht wiederholen. Sollen sie machen - es geht uns nichts an.

    • 7G
      74450 (Profil gelöscht)
      @A. Müllermilch:

      "Für die sind wir Ungläubige."

       

      Wen meinen Sie mit die? Die einen 50% der Türk*innen oder die anderen 50%?

  • der Kommentar in der Taz vor einigen Wochen der Analogien zwischen Erdogans "Gegenputsch" und der Machtergreifung aufzeigte fand ich überzeugender...







    Fakt ist doch Erdogan war vorbereitet, sehr gut vorbereitet. Es gab Listen mit Namen und Leute vor Ort die ohne zu zögern gegen geltendes Recht verstoßen haben. Außerdem in welcher Demokratie ist ein fehlgeschlagener Putsch die Rechtfertigung die Organe dieser Demokratie außer Kraft zu setzen.







    Selbst wenn es einen Gülenputsch gab, es gab auch einen von Erdogan. [...] von DIKTATOR Erdogan!

     

    Hinweise, Lob und Kritik an der Moderation können Sie gerne an kommune@taz.de richten. Darüber hinaus bitten wir darum, zum konkreten Artikelthema zu diskutieren. Danke, die Moderation

  • Ist es wirklich so sicher, dass Gülen hinter dem Putsch steckt? Einer guter ist er sicher nicht, doch war da nicht ein Geheimpapier aufgetaucht, welches diese Annahme durchkreuzte? Und hat Erdogan nicht alle Mittel dazu, auf den Tisch zu bringen, wie im beliebt? Jeder der hier Partei ergreift, kann bisher falsch liegen. Gülen hatte wohl Feinde in beiden türkischen Lagern, was zumindest die Einheit in der Sache erklären könnte.

  • 3G
    36387 (Profil gelöscht)

    Für Menschenrechtsverletzungen von Täter*innen in der Türkei, die sich nach Deutschland begeben haben, haben wir Gesetze und Gerichte ...

     

    Das eine nicht tun (Menschen dem türkischen nationalreligiösen Regime auszuliefern), heißt ja nicht, das andere zu lassen (Verbrecher identifizieren und zu betrafen).

     

    Ansonsten:

     

    Wenn hunderttausende von Beamt*innen usw. an dem Putsch beteiligt gewesen wären, wäre er gelungen.

     

    Wir sollten mindestens so ehrlich sein, dass

     

    a) Erdogan den Putsch benutzt, um die Demokratie zu beerdigen und die Kurdenfrage rassistisch zu beantworten.

     

    b) Ja, die EU-Verhandlungen mit der Türkei waren verlogen.

     

    Ehrlichkeit bedeutet aber nur eins: Jetzt endlich Schluss mit den Lügen machen. Die Türkei wird niemals Mitglied der EU.

     

    b.1) Trösten kann sich die Türkei damit: Auch Kurdistan wird nie EU-Mitglied.