Debatte Arbeitszeit: Haut endlich ab, schlechte Vorbilder
Die Forderung der IG Metall nach kürzeren Arbeitstagen verstört die Arbeitgeber. Denn die Kampagne berührt einen kulturellen Konflikt.
S päter kommen oder früher gehen, mehr Zeit für Kinder, Freunde oder Sport, und dabei auch noch genauso viel verdienen wie zuvor: das klingt wie ein alter gewerkschaftlicher Traum. In den Altenheimen und Kliniken der schwedischen Stadt Göteborg wurde dieser Traum 2015 Realität.
Pfleger und Krankenschwestern arbeiten dort nur noch sechs Stunden pro Tag – bei vollem Lohnausgleich. Seither fühlen sie sich entspannter, machen weniger Fehler und sind außerdem auch seltener krank. Umgekehrt verzeichnen die Personalabteilungen auf der Suche nach Fachkräften plötzlich mehr Bewerbungen.
Das Arbeitszeitexperiment verursacht allerdings auch zusätzliche Kosten, weil neue Stellen eingerichtet wurden. Eine höhere Produktivität soll das ausgleichen, schließlich leisten ausgeruhte Beschäftigte mehr als erschöpfte. Doch ganz so leicht geht die Rechnung nicht auf.
Anfangs habe man das ambitionierte Ziel verfehlt, geben die Initiatoren aus Krankenhäusern und Stadtverwaltung zu. Eine Studie der Universität Stockholm macht ihnen allerdings Mut: Danach bringt das innovative Zeitmodell langfristig allen Beteiligten Gewinn. Auch an anderen Orten in Schweden laufen inzwischen Versuche mit Arbeitszeiten unter 30 Wochenstunden.
Ein auf Erwerbsarbeit fokussiertes Leben
Hierzulande ist man von der Verwirklichung solcher Utopien weit entfernt. In den laufenden Tarifverhandlungen der Metall- und Elektroindustrie verlangen Gewerkschafter neben einer Lohnerhöhung das Recht, für bis zu zwei Jahre höchstens 28 Stunden zu arbeiten – etwa um Angehörige zu pflegen oder Kinder zu versorgen. Die Durchsetzungschancen dieser Forderung stehen trotz des üblichen Säbelrasselns und der Warnstreiks schlecht.
ist Politikwissenschaftler und Autor. In seinen Texten und Büchern hat er sich schon häufig mit dem Thema Zeit beschäftigt – und sich gewundert, warum auch Menschen, die es nicht nötig haben, ihr ganzes Leben nach der Erwerbsarbeit ausrichten.
Dass sie (scheinbar) „private“ Tätigkeiten mit einem Zuschuss subventionieren sollen, liegt für viele Unternehmer schlicht jenseits ihrer Vorstellungskraft. „Bezahlen für nicht geleistete Arbeit? Das geht nicht“, so ein Firmenchef aus der Autozulieferbranche in einem Interview. Kategorisch weigern sich die Arbeitgeberorganisationen, dieses Thema überhaupt zu verhandeln.
Die IG Metall beißt mit ihrer Arbeitszeitkampagne auf Granit. Dahinter steckt neben dem ritualisierten Machtpoker auch ein tief sitzender kultureller Konflikt. Viele (männliche) Betriebsleiter kennen schlicht nichts anderes als ein auf Erwerbsarbeit fokussiertes Leben mit 50 Wochenstunden und mehr. Als Vorgesetzte wollen sie ihre MitarbeiterInnen dazu erziehen, diesem schlechten Vorbild zu folgen. Weil sie sämtliche häuslichen Aufgaben – nicht nur die Erziehung der Kinder – unhinterfragt an ihre Ehefrauen delegiert haben, fehlt ihnen jedes Verständnis dafür, dass ihre Untergebenen mehr Zeit brauchen sollten.
„In Wahrheit kann man in den freien Stunden gut schwarzarbeiten“, argumentiert zum Beispiel ein Verband der Metallindustrie. Dass vor allem ein Teil der jungen Leute anderen Werten folgt, die Aussicht auf eine lebenslange 40-Stunden-Stelle nicht beruhigend findet, sondern als Zumutung betrachtet, gilt in diesen Kreisen als Symptom des Verfalls der bewährten deutschen Arbeitsmoral.
Der Wunsch nach einem weniger stressigen Leben
Die Wirtschaftslobbyisten sehen den Veränderungsbedarf deshalb ganz woanders: Sie stellen mühsam erkämpfte Mindeststandards, die die Länge der betrieblichen Anwesenheit begrenzen, grundsätzlich infrage. Sie wollen eine vollständige Freigabe – aber nicht nach unten, sondern nach oben.
Versuche, kürzere Arbeitszeiten bei vollem oder teilweisem Lohnausgleich durchzusetzen, haben historisch stets eine enorme Strahlkraft auf die Belegschaften entfaltet. So fanden die Streiks für die 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren breite Unterstützung, weil damit der Wunsch nach einem besseren, weniger stressigen Leben verknüpft war.
Gewerkschaftsfrauen forderten schon damals den Sechsstundentag, nicht zuletzt wegen der Sorgepflichten erwerbstätiger Mütter nach dem traditionellen Rollenmodell der Geschlechter. Auch die Senkung der Arbeitszeit im Volkswagen-Konzern ein Jahrzehnt später hatte eine – so gar nicht beabsichtigte – kulturelle Komponente. Eigentlich als Instrument der „Beschäftigungssicherung“ währen einer Absatzkrise gedacht, verbesserte die starke Verkürzung der Schichtdienste die Lebensqualität der Automobilwerker, wie diese überrascht feststellen konnten.
Entgegen den damals von Boulevardzeitungen verbreiteten klischeehaften Berichten über Schwarzarbeit und überfüllte Baumärkte nutzten laut Ergebnissen wissenschaftlicher Studien gerade Väter ihren größeren zeitlichen Spielraum für mehr Präsenz in der Familie.
Mehr Zeit wichtiger als mehr Lohn
Die IG Metall vollzieht gerade einen überfälligen Kurswechsel. Der Lohn des männlichen Ernährers, der für die ganze Familie reichen sollte, war in der Vergangenheit das Maß aller Dinge. Auch in den letzten Jahren hat sich die Gewerkschaft, trotz anders lautender Rhetorik, immer auf Einkommenszuwächse konzentriert.
Zwar verwiesen die Funktionäre in Interviews auf den in Onlinebefragungen ermittelten Wunsch ihrer Mitglieder nach zeitlicher Flexibilität. Sie lobten auch die Pläne der früheren Familienministerin Manuela Schwesig, die verkürzte Arbeitszeiten für Eltern gesetzlich durchsetzen wollte. Sogar ein Plakat wurde entworfen, auf dem zwei Kinder in Anlehnung an die 1950er Jahre skandierten: „Nachmittags gehören Mutti und Vati mir!“ Das war eine wichtige Aussage, denn Eltern hilft ein kurzer Sechsstundentag mehr als etwa eine Viertagewoche.
Doch gebraucht wurde das Motiv bisher nie, Gesprächsergebnis war stets ein Plus auf dem Konto. Jetzt sollten die Gewerkschafter wirklich „Arbeit neu denken“ – wie der Vorsitzende Jörg Hofmann behauptet – und in den Auseinandersetzungen der kommenden Wochen hartnäckig bleiben.
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