Debatte Antisemitismus: Wir doch nicht
Es gibt einen neuen Antisemitismus in Europa. Statt sich damit auseinanderzusetzen, schiebt man in Deutschland die Schuld lieber den Muslimen zu.
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D ie antisemitischen Kundgebungen vom Wochenende konnten niemand überraschen. Gibt es militärische Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Armee und der Hamas, versammelt sich Tags darauf ein Mob in deutschen Innenstädten und ruft seine Hassparolen: „Kindermörder Israel.“
Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass es einen neuen Antisemitismus in Europa gibt, der im Gewand des Antizionismus und der „Israelkritik“ daherkommt, auf den sich sehr unterschiedliche Gruppen einigen können: Neonazis, Verschwörungstheoretiker, linke Antiimperialisten, Islamisten, bibelfeste Protestanten, Friedensbewegte, BDS-Aktivisten, Querfrontler und rappende Hassprediger. Da ist es ein Fortschritt, dass die Bundesregierung im September der Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken zustimmte, die auch pauschale Israelkritik als Judenhass versteht.
Statt die Lage nun aber nach Vorkommnissen wie am Brandenburger Tor, wo Demonstranten eine Israelfahne verbrannten, nüchtern zu analysieren, politische Strategien zu entwickeln und sich mit den Jüdinnen und Juden zu solidarisieren, wird links, rechts und in der Mitte ein munteres Spielchen gespielt.
Teile der Linken halten weiter an Palästina als letztem Strohhalm für ihr krudes antiimperialistisches Weltbild fest. Der Palästinenser ist ihnen Chiffre für den Unterdrückten schlechthin. Auf gefühlslinker Seite pflegt man einen ins Rassistische tendierenden Paternalismus, der es aus antirassistischen Gründen opportun erscheinen lässt, jede Diskussion über Muslime mit illiberalen, homophoben, frauenfeindlichen und antisemitischen Neigungen schnellstmöglich abzumoderieren.
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Teile der extremen Rechten haben Israel und Juden aus taktischen Gründen für sich entdeckt. Da gilt es auf einmal, die „jüdisch-christliche Kultur“ gegen den Islam zu verteidigen, und antisemitisch motivierte Gewalt von Muslimen lässt sich bestens für antimuslimische Propaganda ausschlachten. Die Kombination funktioniert so gut, dass sie auch in die Rhetorik flüchtlingsfeindlicher Milieus der Mitte Eingang gefunden hat.
Die Mitte der Gesellschaft ruht in sich
Nach den antisemitischen Kundgebungen konnte man im Cicero lesen: „Ob es ein deutscher Antisemitismus ist, ein Antisemitismus von deutschen Staatsbürgern, bleibt ungewiss. Es ist ein muslimischer Antisemitismus auf deutschem Boden.“ Praktisch, dieser Antisemitismus der anderen: Dann müssen wir uns mit dem eigenen nicht beschäftigen. Da ruht die Mitte der Gesellschaft ganz in sich, da lehnen sich die besseren Kreise relaxt zurück.
Besonders tiefenentspannt: Jens Spahn von der CDU. „Der Davidstern brennt 250 m vom Bundestag entfernt. Wehret den Anfängen. Wir schauen importiertem Antisemitismus aus falsch verstandener Toleranz schon viel zu lange achselzuckend zu“, twitterte er.
Spahn hat ja recht: Es gibt importierten Antisemitismus, der unter anderem über arabisches Satelliten-TV und Internet seinen Weg nach Deutschland findet. Aber diejenigen, die ihn verinnerlicht haben, sind nur zum Teil Geflüchtete, größtenteils sind sie hier geboren. Und richtig dumm an der Sache ist, dass es diese Umfrage aus dem Jahr 2016 gibt. Damals akzeptierten 40 Prozent der Befragten diese Aussage: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“ 24 Prozent machten sich die schäbigste aller Relativierungen der „Israelkritik“ zu eigen: „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“ Wie viele von diesen 24 Prozent sind Wähler der Christdemokraten?
Paul Ziemiak, Junge-Union-Bundesvorsitzender, meint: „Wer Israelfahnen verbrennt, hat in Deutschland nichts verloren!“ Schön gesagt. Was hat er wohl mit deutschen Antisemiten vor? Ausbürgern und mit dem nächsten Nafri-Transport nach Afrika schicken?
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