Debatte Ägypten und Gaza: Alter Konflikt in einer neuen Welt
Noch weiß niemand, wie eine veränderte arabische Welt außenpolitisch agieren wird. Die Muslimbrüder in Ägypten stehen unter Druck.
D ie 1,5 Millionen Palästinenser des Gazastreifens sind weiterhin von der Außenwelt abgeschnitten. Die im Gazastreifen regierende Hamas und andere, noch radikalere Gruppen schießen sich mit Raketen auf Tel Aviv zurück ins internationale Gedächtnis.
Doch das eigentliche Heft des Handelns liegt in israelischer Hand. Dort weiß man, dank moderner Überwachungstechnik genau, wo sich der militärische Chef der Hamas zu jeder Tageszeit aufhält. Dort entscheidet man, wann man Ahmad Al-Jaabari mit einer Rakete in seinem Auto in die Luft jagt. Dort ist man sich sicher, dass bei der neusten militärischen Operation im Gazastreifen niemand in den USA oder in Europa die diplomatische Notbremse ziehen wird. So weit, so bekannt: Und doch gibt es in der jüngsten Runde der Auseinandersetzungen im Gazastreifen einen neuen Faktor.
Sie sind der erste große außenpolitische Test für die sich wandelnde Arabische Welt. Und den hat Ägypten mit der Entsendung seines Ministerpräsidenten Hischam Qandil am Freitag nach Gaza angenommen, wo er sich mit Hamas-Offiziellen traf und ein Krankenhaus besuchte.
Aktives Mitmischen
Qandil stellte sich solidarisch hinter die Palästinenser. Gleichzeitig erklärte er aber, dass Ägypten keine Mühen scheuen werde, einen Waffenstillstand zwischen Israel und Gaza zu vermitteln. Der ägyptische Regierungschef forderte Hamas auch auf, die Lage nicht weiter unnötig eskalieren zu lassen. Betrachtete die arabische Seite den Gaza-Krieg vor vier Jahren von der Seitenlinie, mischt sie sich nun also aktiv ein.
ist taz-Autor und Korrespondent in Ägypten.
In Kairo sitzen jetzt die demokratisch gewählten Muslimbrüder an den Hebeln der Macht. Aber die Seelenverwandtschaft zwischen den Regierenden auf beiden Seiten der Grenze in Rafah ist nicht der einzige neue Gleichung in der nahöstlichen Rechnung. Wenn sich der Diktator Mubarak um etwas nicht sorgen musste, dann war es die öffentliche Meinung zu Hause. Die hatte sein Sicherheitsapparat im Griff. Das ist für die Muslimbrüder im demokratischen Ägypten anders.
Sie müssen erstmals die öffentliche Meinung mit einberechnen, wollen sie bei den demnächst anstehenden Parlamentswahlen wieder gewählt werden. Kein Wunder, dass das neue Ägypten auf den jetzigen Waffengang in Gaza anders reagiert. Das wurde schon zwei Stunden nach der israelischen Exekution des Hamas Militärchefs deutlich.
Angst vor der Kraft der öffentlichen Meinung
In einer ersten Erklärung ließ die ägyptischen Freiheits- und Gerechtigkeitspartei - der politische Ableger der Muslimbrüder - verlauten, Israel müsse verstehen, dass eine veränderte arabische Welt derartiges nicht mehr einfach hinnehmen werde. Als erste Konsequenz wurde der ägyptische Botschafter in Israel zurückberufen.
Gleichzeitig appellierte die neue ägyptische Führung an Washington, dem Ganzen endlich einen Riegel vorzuschieben, aus Angst, von der öffentlichen Meinung in Ägypten überrollt zu werden. Denn bisher sind sie in ihren Taten nicht weitergegangen als zuvor Mubarak, der in solchen Situationen ebenfalls seinen Botschafter aus Israel zurückbeordert hatte, ohne an den diplomatischen Beziehungen und dem Friedensvertrag mit Israel selbst zu rütteln.
Die Muslimbrüder in politischer Verantwortung in Kairo spüren nun selbst den Druck. Das Thema Gaza ist nicht allein ein Islamistisches. Auch liberale Parteien meldeten sich zu Wort. Die Verfassungspartei des Friedensnobelpreisträgers und ehemaligen Chefs der Atomenergiebehörde, Muhammad El-Baradei, „verurteilt die barbarischen israelischen Angriffe, die internationale Konventionen verletzen, die von Israel unterzeichnet wurden“. Und auch hier findet sich der Verweis, dass neue Zeiten in Ägypten angebrochen seien. „Nach der Revolution kann der ägyptische Staat nicht so weiter machen wie früher“, heißt es.
Es ist also zu einfach, die neuen Töne aus Kairo einfach nur als einen politisch verwandtschaftlich islamistischen Austausch zwischen Muslimbrüdern in Kairo und der Hamas in Gaza abzutun. Es sind die Muslimbrüder, die von allen politischen Strömungen des Nillandes am meisten genötigt sind, anders zu handeln als früher Mubarak.
„Die Israelis müssen verstehen, dass wir diese Aggression nicht akzeptieren werden, die zu einer Instabilität in der gesamten Region führen könnte“, erklärte der ägyptische Präsident Muhammad Mursi von den Muslimbrüdern am Donnerstag im Staatsfernsehen, während die israelische Luftwaffe weiter den Gazastreifen bombardierte. Worte die weniger wie eine Drohung, sondern eher ein wenig nach Panik klingen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett