Das quotierte Klassenzimmer: Nur Quote hilft nicht
■ Sprachschwierigkeiten von Kindern sind weniger ethnisch als sozial verursacht
Erstmals seit zehn Jahren wurde in Berlin der Sprachstand von SchülerInnen wieder untersucht. Im Bezirk Wedding wurden alle ErstkläßlerInnen auf ihre Deutschkenntnisse hin überprüft. Fast die Hälfte der Kinder, so das Ergebnis, bedürfen der sprachlichen Förderung. Das heißt, 72 Prozent der untersuchten Kinder nichtdeutscher Herkunft müssen gefördert werden – das sind mehr als zwei Drittel. Aber selbst bei den Kinder, die aus deutschsprachigen Elternhäusern stammen, macht die Gruppe der Förderbedürftigen immerhin 11 Prozent aus. Sprachprobleme sind also nicht nur ein Thema für sogenannte Ausländer. Mangelnde Deutschkenntnisse sind vielmehr eine soziale Frage.
Ein bemerkenswertes Ergebnis der Studie war, daß neun von zehn Kindern den Kindergarten oder eine Vorklasse besuchten. Das heißt: Die mangelhafte Fähigkeit, sich auszudrücken, ist nicht etwa auf unzureichende vorschulische Betreuung zurückzuführen. Die Familien sind es, in denen Sprechen, Lesen und Schreiben zu kurz kommt. Die Kommunikation in den Elternhäusern ist gestört.
Die Mehrzahl der überprüften Kinder stammte aus türkischen Familien. Ein Elternteil ist hier aufgewachsen, hat eine deutsche Schule besucht und ist nur noch teilweise in der türkischen Muttersprache sozialisiert. Der andere Elternteil kommt häufig aus der Türkei und ist ausschließlich muttersprachlich-türkisch sozialisiert. Bei den Kindern ergibt sich daraus häufig eine halbsprachige Sozialisation: Es fehlen eindeutige Sprachvorbilder. Der Besuch eines deutschen Kindergartens kompliziert die Sprachentwicklung dieser Kinder oft noch. Dies trifft gerade dann zu, wenn das Erlernen des Deutschen in der Familie keine Fortsetzung findet.
Ähnliches gilt für jene knapp 20 Prozent der Kinder, die aus bikulturellen Familien stammen. Grundsätzlich ist die zunehmende, in den Familien gelebte Multikulturalität positiv zu betrachten. Selbstverständlich können Kinder zweisprachig aufwachsen. Dazu bedarf es aber entsprechender positiver sozialer und sprachlicher Voraussetzungen. Das sind Elternhäuser, in denen Sprache nicht nur auf Organisatorisches oder das Erteilen von Anweisungen reduziert ist. In solchen Familien findet sprachliche Auseinandersetzung statt: Erzählen, Erklären und Argumentieren nehmen einen zentralen Stellenwert ein.
Die Untersuchung hat allzu deutlich gezeigt, daß die beschriebene Halbsprachigkeit auch deutsche Familien betrifft. Das Leben in diesen Familien ist häufig durch massive Probleme geprägt – durch sozialen Abstieg, Perspektivlosigkeit, Generations- und Ehekonflikte, ungesteuerten Medienkonsum – und damit eine reduzierte Kommunikation. Das führt zu sprachlicher Verarmung – bis hin zu Sprachlosigkeit.
Ein Viertel der überprüften Kinder hat erhebliche Probleme, Sätze zu verstehen oder selbst zu bilden. Ein Zehntel kennt lediglich Hauptwörter. Nur Förderklassen oder intensive Deutschkurse können solche Kinder befähigen, dem normalen Schulunterricht zu folgen. Für die anderen Förderbedürftigen stellt sich die Frage: Hilft ihnen zusätzliche Förderung und/oder eine Quotierung der Klassen nach Herkunft? Allein die faktische Situation der Innenstadtbezirke Berlins läßt daran zweifeln: Selbst eine Quote von 30 Prozent deutscher Kinder pro Klasse, wie sie Özcan Mutlu forderte (taz vom 15. Februar), ist dort nicht mehr realisierbar. Die Klassen sind international aus Kindern aus zehn verschiedenen ethnischen Gruppen zusammengesetzt. Ein muttersprachlicher Ansatz in der Sprachförderung ist unter solchen Voraussetzungen nicht machbar. Die verbindende Kommunikationssprache muß Deutsch sein – erlernt und gefördert möglichst früh im Vorschulbereich.
Ohne hinreichende Sprachkompetenz werden die Kinder in einer leistungsorientierten Gesellschaft wie der unseren scheitern. Zu dieser Einsicht müssen auch die Eltern gelangen. Ohne ihre aktive Beteiligung an der sozialen und somit auch sprachlichen Entwicklung ihrer Kinder bleibt jede andere Förderung unzureichend. Andreas Pochert
Der Autor ist pädagogischer Berater der Schulpsychologie
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