: Das WTC hat es gegeben
Der 11. September war das überfällige Ende der seit zwei Jahrzehnten kursierenden Überzeugung, dass „die Medien“ eine einzige andere und geschlossene Welt wären. Mit dem beliebten Baudrillardismus müsste man jetzt endlich aufhören können
von DIEDRICH DIEDERICHSEN
„Don’t feel like Satan, but I am to them“ – Neil Young 1989
Eigentlich hätte dies ein Text zu Genua werden sollen. Und ein anderer Giuliani als der New Yorker Bürgermeister wäre darin vorgekommen. Ich hatte an anderer Stelle über das Foto geschrieben, auf dem der tote Carlo Giuliani inmitten ratloser Genossen und kaputten Krempels liegt: wie das dort Sichtbare eine Welt zeige, die so neu wäre, dass sie noch nicht symbolisiert sei. Kurz darauf kippen zentrale Symbole unserer Weltordnung, und es stellte sich die Frage, ob dies nicht ein paradoxer Beweis für ihre Intaktheit sei; die globale Geschlossenheit und Gültigkeit der von ihr benutzten Codes, so dass noch ihre erbittertsten Gegner sich an sie halten müssen. Oder ob ihre physische Zerstörung tatsächlich zu einer neuen Welt führt, ob mit den physischen Trägern auch der sie validierende Code verschwunden sei? Wer wird jetzt noch glänzende Hochhausfassaden als Verkörperung der Schönheit, Stabilität und Stärke des Kapitals und seiner Kultur ungebrochen lesen können? Niemand und doch ein jeder.
Bezeichnenderweise kommt kein WTC-Text ohne die erste Person des New Journalism aus. Alle haben etwas erlebt, bevor sie zu reden anfingen. Meine erste Reaktion auf den 9-11-Day, den ich in einem fernen matten und milden Land im Südwesten erlebte, nach zwei drei sprachlosen Stunden und weichen Knien, war das Gefühl, nichts mehr analysieren und beschreiben zu wollen. Kurz dachte ich, wie man denn noch Zeichen hin und herschieben kann, wenn das, was diese bezeichnen nicht mehr ist – eine mit Menschen bevölkerte Welt. Das völlig formalisierte, verselbstständigte und durch Milliarden von Repräsentationen floatende Zeichen WTC gehörte zu einer geschlossenen Welt der Codes, die sich die Leute angewöhnt haben, „die Medien“ zu nennen. Dass in einem Angriff auf diese Codes darin lebende Menschen zu Tode kommen, das war mein entscheidender Schock.
Dieser Tag war das überfällige Ende der seit zwei Jahrzehnten kursierenden Überzeugung, dass „die Medien“ eine einzige andere und geschlossene Welt wären. Eine, die man zwar immer gerne kritisierte und beschrieb, ja gerne auch für die realere hielt, deren Diskurse und Produktionen aber jede Abbildfunktion verloren hatten. „Die Suche nach dem Bösen beginnt“ titelte die taz, damit wieder als Erstes einen Diskurs markierend, den aufkeimenden Fundamentalismus des Westens sozusagen. Den gibt es zwar, aber es ging natürlich auch die Suche nach den konkreten Bösen los, den echten Mördern. Mit dem Baudrillardismus müsste man jetzt aufhören können. „Vielleicht gibt es El Salvador gar nicht“, wie es einmal berühmt-berüchtigterweise Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten (sic!) stellvertretend für viele stolz kritische Medienskeptiker in den frühen 80er formulierte, als diese Überzeugung noch einigermaßen frisch war.
Das WTC, das hatte es echt gegeben. Bezeichnenderweise waren es vor allem Musikmagazine und ihr Umfeld, dazu die Foren der elektronischen Kulturavantgarde im Netz, die sich immer noch an diesen Glauben klammerten und meinten eine Fälschung in den Bildern jubelnder Palästinensern entdeckt zu haben und sich an diesem Beweis ihrer Medienkompetenz einen trügerischen Trost abholten, der die immer noch amtierenden Weltbilder anno William S. Burroughs absichern sollte. Keine Missverständnisse: Ich bin natürlich nicht gegen eine Ideologiekritik massenmedial erzeugter Vorstellungen, im Gegenteil, gerade jetzt brauchen wir mehr davon. Doch wir haben zu lange geglaubt, es reiche sich über mediale Effekte zu unterhalten statt über die politischen Sachen selbst. Während andere politisch handeln, regt sich das links-kreative Milieu nur darüber auf, wie das Ganze ideologisch verkauft wird. Während der Mainstream hetzt, beklagt die metadiskursive Linke nur die Hetze, statt anders zu reden.
Doch, es gab schon vor dem 11. September einen Trend zu mehr Repression, mehr Staatlichkeit. Der Massenmord von New York scheint nun dazu beizutragen, einen bislang nur als Diskurs und Drohung kursierenden Weg zur Repression im Nachinein mit Legitimität auszustatten. Einer Legitimität, die einem von verschiedenen Seiten und schon länger in Angriff genommenen Projekt einer neuen Staatlichkeit die lästigen Gegenstimmen vom Hals schafft, wobei weit über die womöglich zur unmittelbaren Fahndung notwendigen Mittel hinausgegangen werden soll. Der im globalen Kapitalismus tendenziell arbeitslose Staat scheint dauerhaft einen neuen Job gefunden zu haben. Schill ist nur ein Anfang.
Doch nicht nur die staatlichen Texte und die Reden von Machthabern spreizen sich mit einer neuen Legitimität, auch deren Kritiker fühlen sich vor allem in ihrem je immer schon gehegten Wahnsinn bestätigt. So wie die Türme Symbol waren in einer (postmodernen) Welt, in der Symbole (angeblich) unabhängig von ihren Referenten hin und her geschoben werden konnten, so sind nun alle Diskurse von einer Ernstfallrhetorik geprägt, die nur selten in ihrer Argumentation wahr macht, was sie rhetorisch ankündigt: dass man nun alles anders sehen muss. Denn meistens argumentieren die Autoren: Es ist jetzt alles anders, deswegen gilt, was ich schon immer gesagt habe.
Nicht neu ist aber der ideologische Kitt der dominanten Diskurse: Sei es Huntington, seien es die hausgemachten Spurenelemente seiner Thesen, die mit den üblichen deutschen Orientalismen verbacken sind. Verbunden sind diese Texte und Theorien durch die Annahme, dass kulturelle Differenzen tiefer liegen und daher wichtiger sind als politische Verhältnisse und Interessenkonflikte. Die Suche nach den tieferen Ursachen befördert naturgemäß ebenso viel Verharmlosung wie Dämonisierung ans Tageslicht. Allerdings kein Material für Diskussionen, sondern nur Stoff für die ohnehin vorgeprägten Emotionen. Besonders auffällig ist es, wenn einer das merkt, aber nur die halbe Strecke weit denkt. Henryk M. Broder etwa wirft dann im Spiegel der Linken kulturalistische Verharmlosung des Islamismus unter dem agnostischen Deckmantel der zu respektierenden kulturellen Differenz vor, um dann wider seine eigene Vernunft zu schlussfolgern, wir befänden uns eben tatsächlich in einem Krieg der Kulturen und also selber ein Erschauern über kulturelle Differenz über mögliche politische Analysen zu stellen.
Dabei ist wer besonders Grauenhaftes leistet seltener ein Alien als ein Einheimischer. Das sogenannte Unfassbare der Tat, das weiß man von jedem Kindermord, führt immer zu einer Bestie aus der Nachbarschaft. Auch jetzt sprechen die Täter und ihre lautstärksten Gegner wie der christliche italienische Fundamentalistenführer Berlusconi die gleiche Sprache. „Huntington“ – die Unvereinbarkeit der Kulturen – ist ja zunächst eine islamisch fundamentalistische Idee aus dem kulturellen Umkreis des Wahabismus. Dann übernahm auch der Westen, gerade seines großen symbolischen Gegenübers verlustig gegangen, die Vorstellung, zwischen Islam und Christentum könne ein neuer geiler symbolischer Antagonismus aufgespannt werden. (Und hier muss ich, meiner Mahnung von oben Folge leistend, einfügen: Diesen Vorstellungen entsprachen Tatsachen – aber politisch verursachte!)
Wenn man aber Kultur als Code nimmt, und diese Auffassung liegt ja all diesen Reden zugrunde, die eine gegenseitige Unverständlichkeit diagnostizieren, könnte es kaum eine falschere Einschätzung geben: Die Schließung der Diskurse, die Kurzschließung der großen Symbole mit Körpern – die Kriegsrhetorik also – ist ja das, was beide Seiten teilen und sich völlig ohne Kommunikationsverlust immer wieder gegenseitig verlustfrei von den entlegensten Tälern des Hindukusch in die Zentralen des Westens hin- und zurückfunken. Die Interpretation des Konflikts als einen der Lebensformen, ist auf beiden Seiten ein sich gegenseitig bestätigender Diskurs der jeweiligen Ultras, dessen Realsubstrat sich auf keineswegs unbekannte Konflikte unter Kapitalismus und Globalisierung problemlos runterkochen lässt.
Weder ist Amerika, also die Außenpolitik der USA, an deren gewaltsamer Durchsetzung unbeteiligt bis hin zur Terroristenausbildung und Unterstützung etwa in Nicaragua, noch hat sich Amerika deswegen irgendetwas „selbst zuzuschreiben“. Die Opfer und die schöne Stadt, in der sie gelebt haben, für irgendein reales Verbrechen dieser Außenpolitik zu bestrafen, ist dann weit niederträchtiger als die amerikanische Idee des Schurkenstaats, die in der Vergangenheit schon mal deren unbeteiligte Bewohner zahlreich zu Opfern machte, und deren Logik die USA ja zur Zeit nicht folgt. Wenn man den Krieg der Kulturen und sein ganzes reaktionäres Gepäck abgestreift hat, wie etwa die in der FAZ gefundene und in der Bevölkerung verbreitete Vorstellung, die Täter hätten sich „im Schutze der multikulturellen Gesellschaft“ bewegt, sollte man natürlich diese durch politische Beschreibungen ersetzen. Wie wäre es zum Beispiel mit Faschismus?
Ähnelt nicht das Bündnis aus einer in verschiedener Hinsicht gedemütigten oder sich so fühlenden (vorwiegend technischen) Intelligenz mit den lumpenproletarischen Ärmsten der Armen proto-faschistischen Konstellationen? War nicht die Tat blanker Faschismus: So viel Schrecken wie möglich verbreiten, ein schrilles leuchtendes Signal setzen – früher Mussolini plus Sorel und Marinetti? Ist nicht Irrationalismus auf der Höhe der Zeit genau das, was man – nunmehr eben mit einem politischen Begriff und nicht einem kulturellen – Faschismus nennt? Und wäre nicht der antisemitische Charakter der „Bewegung“ durch diesen Begriff auch besser eingeschlossen, sein gesellschaftspolitisch reaktionäres und frauenfeindliches Programm obendrein?
Der Nachteile dieser Beschreibung sind indes auch viele. Lokal: Die Deutschen werden in Bezug auf ihre Vergangenheit erleichtert ausrufen: „We’ve got a bigger problem now.“ Global: Der Kampf gegen den Faschismus könnte auf noch bescheuertere Art zur generellen Rechtfertigung jeder Form von Gegenschlag und Mobilisierung dienen. Er könnte zukünftigen Gegenschlägern ein noch unbekümmerteres Tun ermöglichen. Schließlich können sich alle darauf einigen, dass Faschismus das absolut Böse ist. Dennoch: Das Wort ist trennschärfer als Terrorist. Denn dass des einen Terrorist des anderen Freiheitskämpfer ist, weiß schon Sabine Christiansen. Wer in letzter Zeit Leute wie den iranischen Außenminister gehört hat, der ausdrücklich auch Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung als nicht terroristisch verstanden wissen wollte, braucht zweifellos andere Termini.
Es hilft jedenfalls keine Ideologie gegen Ideologie. Ideologie wird aber präsentieren, wer Krieg führen will. Wenn die linke Ideologiekritik weiter ginge als wie bisher immer nur das Ideologische an der Ideologie zu konstatieren und aus ihrer Kritik eine eigene Politik ableiten würde, wäre das nicht nur ein erster Schritt der Bewaffnung gegen die Leiden, die der raunende Joschka Fischer „der nächsten und übernächsten Generation gerne erspart hätte“. Es wäre auch notwendig, um das Gegenprojekt gegen den neuen Antagonismus aus Zivilisation und Barbarei, für das Genua stand, mit mehr Begrifflichkeit auszustatten. Es musste ja kommen, dass der Christenführer Berlusconi im Rahmen seiner Fatwa für das Abendland und gegen den Rest auch in guter alter Rot-gleich-Braun-Logik die Globalsierungsgegner von Genua mit den Attentätern von New York parallelisierte. Früher hat man nach einer Alternative zu Washington und Moskau gesucht. Es dürfte leichter sein, den gegenwärtigen Antagonismus als das Produkt eines Systems zu beschreiben. Dieses ließ bisher an seinem westlichen Pol noch eine Auseinandersetzung über sich zu, wenn auch im kleinen Rahmen. Die Rhetorik des Ernstfalls und so manche ihrer gesetzgeberischen Konsequenzen bringen selbst diesen Rahmen der Auseinandersetzung in Gefahr. Dessen Regel aber ist: Man kann nur ändern, ja, negieren und aufheben, wenn man nicht zerstört. Zerstörerisch sind aber auch die ökonomischen oder sicherheitspolitischen Schließungen der Welt. Das muss gegen alle Angriffe von Fundamentalisten und Erpressungen von Demokraten verteidigt werden.
Ich fand das links-schlaumeierische Sichlustigmachen über Kitsch blöd. So unerträglich Kitsch ist, wenn er als Argument eingesetzt wird, so wenig kommt man als Mitfühlender ohne seine Vereinfachungen aus. Am besten hat dieses Problem natürlich Neil Young gelöst. Er wusste, dass man bei der Gala „America: Tribute to Heroes“ am Freitag, den 21. September, nur absolut greinendes Zeug einsetzen kann und hat unter all den utopisch wimmernden Songs der Popmusik-Geschichte das Einzige ausfindig gemacht, das sich explizit gegen die religiöse Scheiße richtet, die alle Übelmänner zur Zeit aufrufen, als Konterkitsch sozusagen. Er hat tatsächlich „Imagine“ gesungen. „Imagine“ wirbt zwar sonst problemlos in Spots vor der „Tagesschau“ für irgendwelche Scheiße, ist aber das einzig populäre Produkt, das mir bekannt ist, in dem die Hoffnung auf das Paradies weder mit Gott, Frömmigkeit, Amerika, noch mit Selbstmordattentaten verbunden ist, sondern nur auf der Grundlage zu haben ist, dass es keinen Himmel gibt, keine Hölle und keinen Gott.
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