Das Jahrzehnt Merkels und Putins: Kassensturz der Zehner

Zehn Jahre Krisen, Katastrophen, Kulturkämpfe – und am Ende gewinnt immer Angela Merkel. Der alles entscheidende Rückblick.

Geballte Fäuste der Angela Merkel

Angela Merkel hat den Kampf Kasse gegen Krise gewonnen Foto: Christoph Soeder/dpa

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht im vergangenen Jahrzehnt?

Friedrich Küppersbusch: 2010 formulierte Bundespräsident Horst Köhler nach einem Truppenbesuch in Afghanistan: „Ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit (muss wissen), dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege.“ Heftige Reaktionen gegen grundgesetzwidrige Kriege für wirtschaftliche Interessen folgten; Köhler vermisste darin „den notwendigen Respekt für mein Amt“ und erklärte seinen Rücktritt.

Und was wird besser im nächsten?

2019 formuliert CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerien Kramp-Karrenbauer vor Führungskräften der Bundeswehr: „Ein Land unserer Größe und unserer wirtschaftlichen und technologischen Kraft, ein Land unserer geostrategischen Lage und mit unseren globalen Interessen, das kann nicht einfach nur am Rande stehen und zuschauen. Deutschland muss den Mut haben, die Rolle als Gestaltungsmacht anzunehmen.“ Als ersten Gestaltungsvorschlag haut sie noch einen völkerrechtswidrigen Einmarsch in Syrien raus – dann schweigt der See, kein Hahn kräht. Wir sind dem Krieg in zehn Jahren einen Krampköhler nähergekommen.

Im Jahr 2010 regierte in Deutschland eine ganz frische schwarz-gelbe Koalition mit Angela Merkel, Guido Westerwelle und Karl-Theodor […] von und zu Guttenberg. Haben Sie irgendwelche Erinnerungen daran?

Nach dem „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ gingen den Liberalen die Ideen aus, und dann auch gleich die Liberalen. Der Hauptaktionär von Mövenpick hatte der FDP 1,1 Millionen Euro gespendet, so gleißte die Senkung der Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen als „Mövenpicksteuer“ aus dem Konvolut hervor – und die FDP war blamiert. Sie rächte sich an Westerwelle in Gestalt vergessener Komparsen wie Dirk Niebel, Daniel Bahr und Philipp Rösler, der Gesundheits- und Wirtschaftsminister wurde und gar Vizekanzler. Top-Witz 2010: „Kommen ein Vietnamese, eine FDJ-Sekretärin, ein Rollifahrer und ein Schwuler in eine sächsische Kneipe. Sagt der Wirt: Raus! Sagen die vier: Hey, wir sind die Bundesregierung.“ Auch Franz-Josef Jung, Ronald Pofalla, Ilse Aigner und Hans-Peter Friedrich hatte kurze Cameo-Auftritte im Kabinett, das war’s. Merkel ritt die perfekte Welle aus harmlosem Koalitionspartner und geerbter Agenda; die Legislatur war eine Promostrecke für „Groko kann kaum schlimmer sein“.

Nach einer Reaktorkatastrophe in Japan wurde Winfried Kretschmann 2011 der erste Ministerpräsident der Grünen. Was war schlimmer?

Die Laufzeitverlängerung, die Eon, Vattenfall, RWE und EnBW just der Bundesregierung abhökerten. Kanzlerin Merkel hatte die Altmeiler gerade um weitere 8 bis 14 Jahre begnadigt, da überraschte sie mit dem Ausstieg aus dem Ausstieg vom Ausstieg: Der rot-grüne „Atomkonsens“ sollte nun gar übertroffen werden. Den Grünen blieb das makabre Glück ein Jahrzehnt treu: Die Europawahl 2019 gewann ihnen die Fridays-for-Future-Bewegung, die Bayernwahl ein Bienenvolksbegehren und die Großdemo am Hambacher Forst. Unterwegs gab es den Abgasbetrug der deutschen Autoindustrie – weswegen ein VW-Chef heute schon mal demütiger und grüner klingt als, sagen wir mal, der grüne MP von BaWü.

Spanien wurde 2012 in Polen und der Ukraine Fußball-Europameister. Parallel dazu stritt Westeuropa über Schulden, Rettungspakete und Finanzen. Wer konnte das Endspiel um den Euro für sich entscheiden?

Halbzeit! Auf dem Weg vom „beliebtesten Nachbarn“ beim „Sommermärchen“ 2006 hin zum Dickdumpfdeutschen heute. Mit „Rettungsschirmen“ und „Faszilitäten“ parfümierte Kanzlerin Merkel den kargen Dung, der für die Euro-Opfer-Länder blieb: Sozialabbau, Schuldendienst. Merkel gewann den europäischen Kulturkampf: eiserne Kasse gegen gelegentliche Inflation. Niemand sagt, dass Sieger sympathisch sind.

Genervt von der Eurokrise und in großer Trauer um die D-Mark, gründet 2013 ein Wirtschaftsprofessor eine neue Partei, die „Alternative für Deutschland“. Sechs Jahre später kann er noch nicht mal mehr in Ruhe Vorlesungen halten. Was ist da schiefgelaufen?

Er.

Wladimir Putin annektierte 2014 die Krim. Im gleichen Jahr hat eine internationale Koalition gegen den „Islamischen Staat“ mobilgemacht, Deutschland die Fußballweltmeisterschaft und Conchita Wurst den ESC gewonnen. Wie steht es um Krieg und Frieden?

Conchita Wurst lächelt

Conchita Wurst gewinnt 2014 den ESC Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Das österreichische Siegermensch war lang nicht so bizarr wie das 7 zu 1 der „Mannschaft“ gegen die brasilianische Elf. Conchita wurstelte sich durch zu einem ESC in der FPÖ-Hochburg Wien, wo Straches homophobe Fans eher 30 als die landesweit notorischen 20 Prozent einsammelten. Die Tragödie in der Ukraine wie das neue Monstrum „IS“ markieren Endpunkte eher als Anfänge. Statt in Kiew einen zukunftsweisenden Deal einzugehen – die Ukraine könnte Zollverträge mit Russland wie mit der EU schließen –, wollten beide Gouvernanten das alleinige Sorgerecht. So sieht das dann aus. Und der „IS“ mordet mit Waffen aus dem Krieg gegen Saddam Hussein. Rot-Grün hatte uns da herausgehalten; die „weapons of mass destruction“ fand man das ganze Jahrzehnt hindurch nicht.

Angela Merkel sagte angesichts der Flüchtlingsbewegungen nach Europa 2015 den Satz „Wir schaffen das“. Wird das noch was mit dem Friedensnobelpreis?

Gibt es einen Nobelpreis für Pirouetten? Noch im Juli 2015 kantete Kanzlerin Merkel bei einem „Bürgerdialog“ das palästinensische Mädchen Reem ab: Nein, nix zu machen, „Deutschland kann nicht alle aufnehmen und es werden nicht alle bleiben können“. Tschüs und #merkelstreichelt. Bemerkenswert, bedenkt man, dass die ganze Sause vom Bundespresseamt inszeniert war; ein regierungsamtliches Signal gegen Flüchtlinge – Wochen, bevor Merkel in Gegenrichtung losumarmte und den legendären Satz prägte. Seit jedoch AKK ihr „Wir schießen das“ dagegensetzt, wird Merkels Klugheit um so deutlicher: „Wenn schon alle drängeln, dass wir uns in Kriege einmischen – dann machen wir halt das Lazarett.“ Merkel hatte also auch hier blitzschnell ihre Meinung gewechselt. Und da es von der falschen zur richtigen ging: Ja, Nobelpreis.

Merkel hatte also auch hier blitzschnell ihre Meinung gewechselt. Und da es von der Falschen zur Richtigen ging: Ja, Nobelpreis

Das Jahr 2016 war das Jahr von Brexit und Donald Trump. Im gleichen Jahr gab es Terroranschläge in Brüssel, Nizza, Berlin und Paris. Und all die Prominenten, die uns in dieser Zeit hätten Halt geben können, starben: Carrie Fisher, Prince, George Michael. Ist der Westen noch zu retten?

Und David Bowie! Roger Willemsen! Guido Westerwelle, Hans-Dietrich Genscher, Roger Cicero, Leonard Cohen, Götze George, Manfred Krug, Fidel Castro und. Semitröstlich, dass wir als Kinder des Popzeitalters einfach viel mehr gute Bekannte haben und ihr Abschied uns nahegeht. Außerdem waren es zu viele und noch außerdemer die falschen.

2017 kabbelten sich dann Sigmar Gabriel und Martin Schulz um die Kanzlerkandidatur. Am Ende gewann: Angela Merkel. Was kann die SPD aus dem vergangenen Jahrzehnt lernen?

Wer in den 70ern nur bei den uncoolen Jusos rumgehangen hatte, konnte natürlich die Präambel der „ZDF-Hitparade“ nicht verinnerlicht haben: „Dreimal dabei gewesen, bitte nicht wiederwählen“. Beim Umweltthema geben sie sich als zweitbeste Grüne, mit der „Agenda“ als bessere FDP und in den Grokos als Sozialbeirat der CDU. Sei du selbst.

Das Jahr 2018 war geprägt durch eine Dürreperiode. Schließlich setzte sich eine junge Frau namens Greta Thunberg mit einem Schild vor das schwedische Parlament. Wann wird sie wieder zur Schule gehen können?

Die Schulpflicht endet in Schweden mit dem neunten Schuljahr, das Thunberg mit guten Noten abschloss. In 2020 will sie eine weiterführende Schule – nun ja, besuchen.

In Hongkong gingen 2019 massenhaft Menschen für Demokratie und Freiheit auf die Straße. Aber schon zu Beginn des Jahrzehnts hatte es ja eine Demokratiebewegung gegeben – den Arabischen Frühling, der am Ende zu Enttäuschung führte. Wird es dieses Mal besser?

China ist nicht mehr angewiesen auf ein marktwirtschaftliches Feuchtbiotop, Kapitalismus können die jetzt selber. Der Sonderstatus Hongkongs als „ein Land, zwei Systeme“ ist noch bis 2047 vereinbart; sie werden es schneller niederfräsen.

Und was machen die Borussen?

Gemäß der holpernden Faustregel, wonach der BVB je Jahrzehnt abwechselnd einmal oder zweimal Meister wird, steht mit den 20ern ein „Ein-Meister-Jahrzehnt“ an.

Die Fragen stellte: die taz2-Redaktion

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Jahrgang: gut. Deutscher Journalist, Autor und Fernsehproduzent. Seit 2003 schreibt Friedrich Küppersbusch die wöchentliche Interview-Kolumne der taz „Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?".

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