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Das Jahr 2023 im Pop-RückblickUnsanfte Konfrontationen

Ein verflixtes Jahr geht zu Ende. Was hat Pop 2023 Interessantes zustande gebracht? Wo ist Hoffnung? Wer nervt? Vier Bilanzen.

Fabelhafte Musikerin aus New York: L'Rain Foto: Tonje Thilesen

Scheffeln und kleckern

War 2023 ein gutes Popjahr? Für Taylor Swift definitiv. Sie brach mit ihrer Tour Rekorde, kam mit Konzertfilm ins Kino und veröffentlichte ihr zwölftes Nummer-eins-Album. Vom Time Magazine zur „Person of the Year“ gewählt, verdiente sie ihre erste Milliarde. Und zwar mit Musik, nicht mit lukrativen Nebengeschäften. Die eine scheffelt Milliarden – andere verdienen auf Spotify Kleckerbeträge. 2024 werden sie noch mickriger. Nur noch Songs, die mindestens 1.000-mal pro Jahr von einer Mindestzahl an Hö­re­r*in­nen gestreamt werden, sollen überhaupt honoriert werden.

Und erst ab dem Zeitpunkt, wenn das erstmals geschieht. Für alle vorherigen Streams gibt es: nichts! Noch schwerer wird es damit für unbekannte Talente, für Bands mit wenigen Fans und für alle, deren Songs der Algorithmus nicht in die Playlists spült, von der Kunst zu leben. Oder wenigstens Produktionskosten einzuspielen. Auch als Arbeitgeber zeigte Spotify sein unfreundliches Gesicht: Im Herbst schrieb das Unternehmen wieder schwarze Zahlen – und verkündete zeitgleich, 1.500 Stellen abzubauen. 2023 ist das Jahr, in dem auch der letzte Funken Hoffnung, im Streamingmarkt könnte irgendetwas gerecht zugehen, verflog. Schlechte Nachrichten gab es noch dazu von Bandcamp.

Die Plattform, auf der Künstler*in­nen Musik und Merch anbieten, galt bislang als eine der Guten, weil dort ein Großteil der Einnahmen direkt an die Erzeuger fließt. 2023 wurde Bandcamp erneut verkauft, an Songtradr, ein US-Unternehmen, spezialisiert auf den Verkauf von Musiklizenzen. Es übernahm nur die Hälfte der Belegschaft und setzte so ein Zeichen, worum es in Zukunft gehen wird. Um die Förderung nischiger Indie-Musik eher nicht. Dabei war Bandcamp schon ein Nährboden, für die Londonerin Loraine James zum Beispiel. 2015 veröffentlichte sie dort ihre ersten Tracks. Wer weiß, ob sich ihre Karriere ohne Bandcamp so entwickelt hätte. Mittlerweile ist James bei Hyperdub unter Vertrag, wo 2023 ihr hochemotionales und zugleich null pathetisches Album „Gentle ­Confrontation“ erschien. Es war eines der besten in diesem Jahr. Beate Scheder

Anohni: „My Back Was a Bridge For You to Cross“ (Rough Trade)

L’Rain: „I Killed Your Dog“ (Mexican Summer)

Liv.e: „Girl in the Half Pearl“ (In Real Life)

Loraine James: „Gentle Confrontation“ (Hyperdub)

André 3000: „New Blue Sun“ (Epic)

Sind nicht cool: Nein Danke Foto: Made in Neuwied

Astreine Haltung

Ich weiß selbst nicht, wie ich dem Umstand begegnen soll, dass mir 2023 ausgerechnet Jan Delay in den Sinn kam. Wie ein Omen aus der Vergangenheit schallte zigmal ein Satz durch meinen Kopf, den er am Rande eines Festivals tätigte: Er könne, erklärte Delay damals, mit dem Sound der Goldenen Zitronen zwar wenig anfangen, finde sie aber „geil“, weil „ihre Haltung stimmt“. Was beinhaltet der Begriff Haltung in der Musik überhaupt?

Bei allem berechtigten Pessimismus, gespeist durch weltpolitische Ereignisse und Pandemien, muss man sich zumindest in der Hinsicht vor Augen führen: Es gibt sie selbstverständlich, Bands mit astreiner Haltung. Als Erstes fallen mir Nein Danke aus Neuwied ein. Ihr Song „Ich bin nicht cool“ beschallte den Sommer. Das bisher im Anonymen werkelnde Duo wurde bereits durch Linus Volkmann geadelt: „Für so eine Musik wurde einst das Label Audiolith erfunden“, erklärte der hessische Musikjournalist.

Nein Danke spielen feministischen, antiätzenden Acid Punk – frei von Essenzialismen und vermeintlichen Wahrheiten. Rückgrat beweisen auch Smile aus Köln mit ihrem Debüt: Frischer Postpunk zwischen Wire, A Certain Ratio und B 52s. Ein Loblied auf die Verspannung und gegen die Laxheit – eine ramponierte Qualität.

Dann war da noch Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) aus München. Selbst nach 40 Jahren Bestehen spielt das Quintett eifrig, obgleich seltener als früher, die theorie-überladenste Popmusik in Deutschland. Bierernst schreiben die Bajuwaren dabei dennoch klein, was sie auf dem seltsamen neuen Album „Topsy-Turvy“ als Diskursband avant la lettre erneut unter Beweis stellen. Surplus: Wer einen Song „Claude Lanzmann (und sein Bruder)“ betitelt, steht nicht im Verdacht, den abscheulichen Terror der Hamas zu verharmlosen.

Dass Haltung auch jenseits der Grenze im Süden gestimmt hat, beweist indes der türkische Schweizer Mehmet Aslan. Seine Compilation „Senza Decoro: Liebe & Anarchia in Switzerland 1980–1990“ wirft den Scheinwerfer auf die anarchistische eidgenössische Postpunk-Szene. Ja, 2023 war ein Postpunk-Jahr! Und eines, in dem Haltung gewagt wurde. Lasst darauf aufbauen. Lars Fleischmann

Nein Danke: „Ich bin nicht cool“ (Eigenlabel)

Smile: Prize of Progress (Siluh)

FSK: „Topsy-Turvy“ (Buback)

Hendrik Otremba: „Riskantes Manöver“ (Trocadero)

Verschiedene: „Senza Decoro: Liebe & Anarchia in Switzerland 1980–1990“ (Strut)

Aus Südamerika nach Berlin gekommen: Sofia Kourtesis Foto: Dan Medhurst

Alternatives Ticketing

Musik generiert mehr Geld denn je. Doch bei vielen Mu­si­ke­r:in­nen kommt wenig an. Weil sie von Streaming kaum leben können, müssen sie vermehrt auf die Bühne. Auch daran verdienen nicht die Künstler:innen, sondern eine unübersichtliche Industrie. In Deutschland allen voran CTS Eventim, nicht zuletzt mit Gebühren, die auf Tickets aufgeschlagen werden. Im Bereich Ticketing ist die Firma europäischer Marktführer.

Mit welchen Tricks der Quasimonopolist arbeitet, wurde 2023 endlich transparenter. Unbedingt sehenswert: Teil 3 der Reihe „Dirty Little Secrets“ (BR), in der Mediathek zu finden. Beim Deutschlandfunk fragte man derweil, wieso massiv Coronahilfe an den Konzern geflossen ist – anders als in den USA, wo der Konkurrent Live Nation aus gutem Grund nichts bekam. Beim unlauteren Eventim-Spiel nicht mitzuspielen, ist für Künst­le­r:In­nen riskant, weil sie dadurch Reichweite verlieren.

Eventim hat in gut 20 Jahren Marktführerschaft bereits andere Tickethändler geschluckt und sich bei Spielstätten und Konzertveranstaltern eingekauft. Im Bereich Live-Entertainment sind sie weltweit Nummer 3. Da die Konkurrenz kaum besser ist, macht das für Kon­su­men­t:in­nen keinen Unterschied. Mittelfristig schneidet sich der geneigte Musikfan ins eigene Fleisch, wenn am Ende dieser Konzern bestimmt, was zu welchen Bedingungen stattfindet.

Daher gilt beim Ticketkauf: nach Alternativen schauen. Bisweilen sind Karten auf Bandwebseiten und bei Veranstaltern zu haben. In Großstädten existieren lokale Anbieter, wie das Portal „raus­gegangen“ (Berlin), bei dem sich Tickets für kleinere Shows erwerben lassen. Oder, man geht zur örtlichen Theaterkasse, von denen viele ihr Geschäft mit Herzblut betreiben. Auch wenn sie an Eventim nicht vorbei­kommen, haben sie bisweilen eigene Konzertbons im Angebot – als faire Alternative. In Zeiten wie diesen soll wenigstens die Musik ­bouncen. Stephanie Grimm

Saroos: „Turtle Roll“ (Alien Transistor)

Selvhenter: „Mesmerizer“ (Hands in the Dark)

Sofia Kourtesis: „Madres“ (Ninja Tune)

Creep Show: „Yawning Abyss“ (Bella Union)

Yo La Tengo: „This Stupid World“ (Matador)

Selfie-made peoples: Sophia Kennedy und DJ Koze Foto: Stefan Kozalla

Ruhe gegen Erschöpfung

Früher hat der britische Komiker Marty Feldman für Entlastung gesorgt. Wenn alles schlimmer zu werden drohte, prophezeite er, dass es noch schlimmer werden könnte, worauf es auch noch schlimmer kam. Heute kommt diese Rolle einem Foto von einem mit Klarsichtfolie notdürftig gegen Wasser geschützten Rembrandt-Gemälde in der Berliner Nationalgalerie zu, das der US-Musiker David Grubbs im Juni gemacht hatte.

Durch ein undichtes Museumsdach drohte Regen das Kunstwerk zu beschädigen. Das Foto vom eingehüllten Kunstwerk wurde zur Meme in sozialen Medien und bebilderte Debatten vom Klimawandel über Ausstellungspraxen bis zur Gebäudesicherheit. Zuletzt einen Essay in der Zeitschrift für Museumskunde. „Die Probleme in Europa sind zur Polykrise angewachsen“, lautet seine düstere Prognose. Wer möchte angesichts der Weltlage widersprechen? Polykrisen spalten auch die Welt der Musik.

Dem Negativen keinen Zucker zu geben, blieb 2023 die große Kunst. Das hat „Wespennest“ geschafft, mein Lieblings­song von DJ Koze und Sophia ­Kennedy. Eine ­Wiesenbetrachtung, bei dem sich die Vortragende zum supereleganten ­Schnapper-Beat hinter einer Fensterscheibe klösterlich gefasst über die Zyklen der Natur Gedanken macht, dank mega-­eingängiger Hookline und der von der herben Stimme Kennedys wiederholten Coda im Text: „Erst die Knospen / Dann der Rest“. Statt Landlust-Eskapismus macht „Wespennest“ bewusst, wie ­fragil Natur ist.

Koze hatte auch beim Album „Hit Parade“ von Roísín Murphy die Produzentenfinger im Spiel. Dem irischen Star schneiderte er einen Reigen klassischer Popsongs, so luftig-leicht wie eine Pret-à-Porter-­Modelinie: Etwa beim Song „Can’t replicate“, in dem Murphy einen unkopierbaren Glücksmoment erinnert und Koze en passant einen Signaturtrack von US-Housepionier Lil’ Louis einflicht. Geräusche machen sorgte für Entlastung und klang je überzeugender, desto sparsamer die musikalischen Mittel eingesetzt wurden. Wie in den Alben von Kassem Mosse und Andrew Pekler, die sich jeweils von einem Instrument aus vortasteten, um Ruheinseln zu schaffen, inmitten von Anspannungsdauerzuständen. Julian Weber

DJ Koze feat. Sophia Kennedy: „Wespennest“ (Pampa)

Roísín Murphy: „Hit Parade“ (Ninja Tune)

Kassem Mosse: „32“ (Workshop)

Andrew Pekler: „SG Rain Suite/For Lovers Only“ (Faitiche)

Tzusing: „Green Hat“ (PAN)

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1 Kommentar

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  • Danke für die vierteilige Rückschau aufs Popjahr 23. Gerne dürft ihr auch mal ab und zu auf das taz-mixtape und auf ByteFM hinweisen. Kennen vielleicht noch nicht alle musikinteressierten taz-Leser..