Das Image Lucien Favres: Kein Entertainer, sondern Visionär
Dortmunds Trainer Lucien Favre hat nicht versagt, er hat vielmehr die Meisterschaft wiederbelebt. Alles andere ist populistisches Geschwätz.
I nterviews mit dem Fußballtrainer Lucien Favre sind eine Qual. Für die Zuseher und am meisten für Favre selbst. Auch der Unsensibelste spürt, wie unwohl sich das Männchen mit den unglücklichen Augen und den dauerzuckenden Schultern dabei fühlt. „Ich kann nicht darüber sprechen und alles erklären“, sagt der Mann aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz bei solchen Gelegenheiten. Oder: „Heutzutage ist das ist so.“ Kurzum: Es macht einfach keinen Spaß, ihm zuzuhören.
Weil Fußball in erster Linie zum Unterhaltungsgeschäft gehört („gehört“ im Sinne des Wortes, denn dort kommt Geld her), ist das der unausgesprochene, aber schwerwiegendste Vorwurf gegen Favre: dass er kein grandioser Entertainer ist wie Jürgen Klopp, sein Vorvorvorgänger als Trainer von Borussia Dortmund.
Zu der ungenügenden Unterhaltungskraft befeuert zweiter Faktor die Favre-Kritik: der Populismus der Fußballanalyse. Wenn ein Spitzenteam wie Dortmund dreimal geführt und am Ende Remis gespielt hat, dann hat das ein sehr komplexes Bündel von Ursachen. Oder ist einfach nur Zufall. Aber das ist keine populäre Unterhaltungsgeschichte.
Also sagt man: Es liegt an der „Mentalität“ der Mannschaft. Keiner sagt, was das genau ist, deshalb ist das Argument super, weil unwiderlegbar. Meist schwingt mit: Viel Geld verdienen, Ansprüche haben und dann nur 2:2? Und die „Mentalität“ des Teams liegt woran? Am schulterhängenden Charakter ihres Trainers, weiß doch jeder, dass Favre ein „Zauderer“ ist. Deshalb wurde doch schon im Vorjahr der sichere Meistertitel vergeigt?
Bullshit. Die ökonomischen Wettbewerbsbedingungen der Bundesliga sind so ungleich geworden, dass seit vielen Jahren nur noch Bayern München Meister wird, teilweise mit obszönem Punktevorsprung. Bis Lucien Favre nach Dortmund kam. Die Runderneuerung des BVB-Teams und seines Stils durch Favre war das spannendste fußballerische Projekt der Vorsaison, der sportliche Erfolg war immens.
Wer wird Meister mit Hertha und Nizza?
Wer sich fachlich für Fußball interessiert, weiß, dass Favre keinen „Angsthasenfußball“ (Süddeutsche) spielen lässt, sondern ein strukturiertes Positionsspiel, in dem Ballbesitz als defensives Mittel benutzt wird. Auch das Offensivspiel hat mit „Zaudern“ nichts zu tun. Die gute Chancenverwertung von Favre-Teams ist kein Zufall, sondern sein Alleinstellungsmerkmal als Trainer. Das bedeutet, dass man Abschluss-Situationen nicht anstrebt, wenn die Erfolgsaussicht eher gering ist
Dass er keine Titel gewinnen kann? Auch so ein Populismusgeschwätz. Wer wurde in der Fußballmoderne Meister mit Hertha, Gladbach, Nizza? Aber wenn man sich die Stationen von Lucien Favre anschaut, so haben sie eine Gemeinsamkeit: Mit ihm wurden die Teams besser und erfolgreicher. Nachdem Favre wieder weg war, fielen sie wieder zurück. Favre hat mitnichten versagt, weil Dortmund im Vorjahr nicht Meister wurde. Er hat die Möglichkeit wiederbelebt, dass Bayern vielleicht doch mal wieder nicht Meister wird.
Was vielleicht die BVB-Anhängerschaft emotional verstört: dass sein Fußball und seine öffentliche Person nicht der Kultur entspricht, die der heilige Klopp idealtypisch spielen ließ und auch grandios öffentlich darstellte. Mehr geht einfach nicht, und weil er das nicht konnte, hat man ja schon den grandiosen Fußballtrainer Thomas Tuchel abgesägt. Aber wozu holt man Favre, wenn nicht für Favre-Fußball? Das wäre ja so idiotisch, als machte man Peer Steinbrück zum SPD-Kanzlerkandidaten und beklagte sich hinterher, dass er Steinbrück ist – und nicht Willy Brandt.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott