Das Attentat von Halle: Die Tür hielt stand
Niemand schützte das Gotteshaus: Nur eine Tür trennte am Mittwoch die Besucher der Synagoge von Halle von dem antisemitischen Attentäter Stephan B.
Acht Einschusslöcher, dicht beieinander, klaffen über dem Schloss, vier Löcher daneben, fünf Löcher darunter. Die unscheinbare Tür hat unerwartet standgehalten. Als eine 40-jährige Frau vorbeikommt, eine Hallenserin, die im Viertel vielen Leuten bekannt ist, sagt sie: „Muss das sein, wenn ich hier langgehe?“ Der Täter richtet seine Waffe auf sie und schießt. Die Frau ist das erste Mordopfer an diesem Tag. Beim Mord erwischt es auch einen Reifen seines Fluchtautos.
24 Stunden später liegt an dieser Stelle wie vor der Tür mit dem zerschossenen Schloss ein Meer aus Blumen und Kerzen: zum Gedenken an die Ermordete und wie zum schockierten Dank an eine Tür, die Zugang zu einem Massenmord hätte werden können. Am Tag nach dem Anschlag ist das Paulusviertel in Halle weit entfernt davon, zur Normalität zurückzukehren: Schwarze Limousinen blockieren ein Stück weiter unten die Humboldtstraße. Pressevertreter drängeln sich auf dem schmalen Bürgersteig gegenüber der Friedhofsmauer auf dem Gelände, wo auch die Synagoge steht. Trauernde werden von der Polizei durchgelassen. Bis tief in die Nacht war der Tatort abgesperrt, um die Spuren des Attentats zu sichern.
Am Mittag ist hier großer Staatsbesuch vorgesehen, Bundespräsident Walter Steinmeier, Bundesinnenminister Horst Seehofer, Sachsen-Anhalts christdemokratischer Ministerpräsident Reiner Haseloff, der jüdische Zentralratspräsident Josef Schuster. Zur Sicherheit der hochrangigen Vertreter, erklärt ein Polizeibeamter, sei die Mahnwache der Anwohner an die nächste Straßenecke verlegt worden, weg von dem eigentlichen Ort der Trauer.
„Zusammenstehen gegen die Gewalt“
Das Bild ist bei den Besuchen das gleiche: Steinmeier geht in Begleitung des Gemeindevorsitzenden, Max Privorozki, zur Tür. Er dreht sich zu Privorozki, zeigt darauf, der nickt. Ein Gesteck mit schwarz-rot-goldener Schleife wird niedergelegt, Schweigen. Dann zieht die Prozession weiter, Gewusel der Presse, man sieht die eine oder andere Kippa, davor unzählige Kameras. Kranzniederlegung an der Gedenkstelle der erschossenen Hallenserin. Dann verschwindet die Gruppe durch das kleine Tor neben den Blumen. Später wird der Bundespräsident sagen, dass jüdisches Leben geschützt werden müsse: „Es muss klar sein, dass der Staat Verantwortung übernimmt für jüdisches Leben, für die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland.“ Und weiter: Wir müssen dauerhaft zusammenstehen gegen Gewalt, wie sie gestern hier erlebt haben.“
Eine Forderung, die bei vielen Jüdinnen und Juden der Gemeinde und im ganzen Land auf Bitterkeit stößt. Denn es war ja am Donnerstag, als rund 80 Gottesdienstbesucher in der Synagoge den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur begingen, so: Kein einziger Polizist stand vor dem Gotteshaus, um die Menschen vor einem möglichen Attentat zu beschützen.
Annett Schwarzer, frühere Hallenser Jüdin
Nur diese eine Tür trennte die Synagoge vor dem Attentäter. Eine Frau, die dabei war, berichtete gegenüber der Jüdischen Allgemeinen vom Ablauf: Demnach habe der Sicherheitsmann von den Schüssen berichtet, woraufhin die Beter ins obere Geschoss gelaufen und sich in der Küche versteckt hätten. Der Sicherheitsmann habe sie auf dem Laufenden gehalten, er beobachtete die Tat über die Sicherheitskamera. Die Eingangstür wurde dann von Gemeindeangehörigen mit Möbeln verrammelt, falls der Täter die erste Eingangstür in der Mauer durchbrechen sollte.
Jetzt werden Fragen laut: Warum war der Ort, wie sonst bei Synagogen besonders an hohen Feiertagen üblich, nicht geschützt worden? „Skandalös“ nennt es Zentralratspräsident Josef Schuster, dass es keinen Polizeischutz gab, wie durch ein Wunder sei nicht noch mehr Unheil geschehen. „Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt.“ Ein Satz, der vielen, die sich am Tag nach der Tat noch zu orientieren versuchen, aus der Seele sprechen muss. Jetzt sind die Gemeindemitglieder abgeschirmt, Die Polizei trennt sie von der Pressemeute.
„Es ist leider zu erwarten gewesen“, sagt eine Frau, die früher hier einmal zu Hause war. Annett Schwarzer ist mit ihren drei Söhnen aus Berlin nach Halle an der Saale gekommen, in ihre Heimatstadt. Die Synagoge sei über ihre Kindheit und Jugend hinweg ihr Zufluchtsort gewesen, bis sie nach Berlin zog. „Ich bin hier aus Solidarität“, sagt sie, „um meinen Kindern zu zeigen, dass ich hier aufgewachsen bin, und auch um zu zeigen, in welcher Gefahr wir schweben. Es ist nicht leicht, so etwas Kindern zu erklären.“ In Berlin schütze sie ihre Kinder mit israelischen Security-Männern. „In der S-Bahn ziehen sie Baseballcaps auf“, sagt sie. Niemand soll ihre Kippa sehen. Das soll sie vor Anfeindungen bewahren.
Nur glückliche Umstände verhinderten ein Blutbad
Karl Sommer, Vorsitzender der liberalen Jüdischen Gemeinde
Doch eine Synagoge oder eine jüdische Gemeinde kann sich nicht tarnen. Die Tür, die der Täter beschädigte, ist nicht auf den ersten Blick als Eingangstür zur Synagoge erkennbar. Und nur wenige Kilometer weiter nördlich hatte auch die liberale jüdische Gemeinde noch keinen Schutz, als die Stadt schon eine „Amoklage“ erklärt hatte. Ihr Vorsitzender Karl Sommer, 80 Jahre ist er alt, erzählt, wie er am Mittwoch von der Tat erfahren hat: durch den Anruf eines britischen Journalisten. Es war ja Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, alle Medien bleiben an diesem Tag von gläubigen Juden unbeachtet.
„Ich habe zu dem Journalisten erst gesagt, da sei doch ein Besoffener unterwegs gewesen“, erinnert er sich an seine erste Reaktion. „Weder die Stadt Halle noch die Polizei noch das Land hat uns darüber ins Bilde gesetzt, dass gerade die Synagoge angegriffen worden war. Unsere Türen standen weit offen“, berichtet er. Er ist hörbar wütend. „Wäre der bei uns gelandet, hätte es ein Blutbad gegeben.“
Am Tag nach der Tat diskutiert das Land über Sicherheitsvorkehrungen für Gotteshäuser. Doch so sinnvoll ein Streifenwagen vor der Synagoge gewesen wäre, so wenig hilft diese Maßnahme denen, die zu der zweiten angegriffenen Gruppe gehören: den Besitzern, Angestellten und Besuchern von Imbissen und Restaurants, die keine gutbürgerliche deutsche Küche servieren.
Der Tatort am Döner-Imbiss
Vor dem Kiez-Döner zeugen Markierungen am Boden noch von der Szenerie, die sich hier ereignet hat. Frustriert von dem gescheiterten Versuch, in die Synagoge einzudringen, war der Täter die Schillerstraße hinuntergerast, direkt auf die breite Ludwig-Wucherer-Straße zu, auf den kleinen Dönerladen mit seiner grünen Schaufensterbeklebung. Der Täter hat hier zunächst eine Granate geworfen, die am Türrahmen abprallte. Das Video von Stephan B.s Helmkamera zeigt, wie die Granate vor einer älteren Dame auf der Straße detoniert.
Als er in den Imbiss schießt, suchen die Gäste im Laden nach Schutz in der Toilette und im oberen Ladenbereich zwischen zwei Kühlschränken. Einer von ihnen wird nach mehreren Ladehemmungen von einem Schuss getroffen. Nach Medienberichten soll er aus Merseburg kommen, zwanzig Jahre alt sein. Anwohner und Zeugen sagen, er sei Bauarbeiter gewesen.
Das Werbeschild des Ladens blinkt noch, der Bereich direkt vor dem Laden ist abgesperrt. Daneben wieder ein Meer aus Blumen. Vor der improvisierten Gedenkstelle steht eine junge Frau mit einem Fahrrad und weint.
Um sie herum legen Leute Blumen und Kerzen ab. Jemand hat ein paar Worte auf Druckerpapier geschrieben und in eine Klarsichtfolie gesteckt, der Zettel hängt an einer Baustellenbefestigung im Blumenmeer: „Ich lasse mir von keiner auf Hass beruhenden Ideologie die Vielfalt der Stadt zerstören, die wir alle lieben!“ Und weiter: „Denken wir an die Opfer und ihre Liebsten, nicht aber an Angst oder Täter.“
„Warum macht jemand so etwas?“
Die weinende junge Frau heißt Arife Yalniz. Sie ist 28 Jahre alt und studiert an der Uni Halle Deutsch auf Lehramt, will Deutschlehrerin werden. Den jungen Mann aus Merseburg, der im Dönerladen erschossen wurde, kannte sie nicht. „Ich bin einfach sensibel“, entschuldigt sie sich. „Ich kann einfach nicht verstehen, wieso jemand so etwas macht. Wenn ich die Blumen sehe und mir vorstelle, dass er eine Familie hat, die jetzt um ihn weint – wie kann man da nicht weinen?“ Sie war auf dem Weg von der Uni zur Arbeit, als es passierte. „Ich hatte sofort Angst um meine Freunde, um meine WG. In so einem Dönerladen mitten in Halle, das hätte ich sein können.“
Yalniz wünscht sich, dass die Gesellschaft endlich weniger gegeneinander arbeitet, die Politik etwas gegen den Rechtsextremismus tut, und sie versucht, ihre Wünsche möglichst positiv zu formulieren. „Mich hat die Tat dazu gebracht, mehr für demokratische Bildung und Zuneigung unter den Menschen tun zu wollen.“
Der Mann, dem der vietnamesische Sushi-Laden gegenüber dem Döner in Halle gehört, will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er ist von schmaler Gestalt, trägt eine Trainingsjacke und eine eckige Brille. Vor seinem Restaurant befindet sich eine Treppe, auf der saßen die Brüder vom Döner-Imbiss gegenüber nach der Tat. Er sagt, er habe in Halle bisher keine Angst gehabt.
Am Mittwoch aber wurde direkt auf der anderen Straßenseite im „Kiez-Döner“ ein zwanzigjähriger Mann aus Merseburg erschossen, einfach weil er sich in dem Restaurant aufhielt. „Es hätte auch uns treffen können. Kurz bevor der Täter eintraf, bin ich für ein paar Minuten weggefahren. Stellen Sie sich vor, ich wäre zurückgekommen und meinen Mitarbeitern wäre etwas passiert.“
Einer seiner Kollegen sei dann rüber zur Dönerbude gelaufen und habe die Tatwaffe fotografiert, als der Täter aus dem Laden heraus war. „Dann kam der Täter zurück. Da sind meine Mitarbeiter schnell in mein Restaurant gelaufen und haben sich verbarrikadiert“, erzählt er. „Es hat so lange gedauert, bis die Polizei eingetroffen ist. Das hat mich schon gewundert. Und dann haben sie sich so unerfahren verhalten.“ Ismet Tekin hat mit so etwas nicht gerechnet. Bis gestern hat er im Kiez-Döner gearbeitet, er und sein Bruder waren es, die nach der Tat noch beim Sushi-Imbiss auf der Treppe saßen. Später standen sie vor der Straßensperrung in der Schillerstraße, von der aus sie ihren Laden sehen konnten, mit der Spurensicherung drinnen. Er war nur kurz fortgegangen, um etwas zu besorgen, erzählt er, „fünf, sechs Minuten nur“. Dann habe sein Bruder angerufen, dass etwas passiert sei. Tekin sei zurückgelaufen; als er an der Straßenecke ankam, drehte er sich um. „Der Täter war da. Er hat auf die Polizei geschossen. Die hat zurückgeschossen. Es war nicht real.“ Sein Bruder, der hinter der Theke stand, als der Täter hineinkam, habe sich bei dessen Anblick sofort auf den Boden geworfen.
Tekin sagt: „Ich habe keine Angst. Ich habe nichts Böses gemacht, dann will ich auch keine Angst haben müssen.“ Klar habe er die Bilder noch vor Augen. „Gestern bin ich nach Hause gegangen, habe noch Nachrichten angemacht und habe die Augen zugemacht. Da waren die Bilder da. Augen auf, waren sie weg. Augen zu, wieder da.“
Es hätte jeden treffen können
Es wird dauern, bis in Halle an der Saale wieder Ruhe einkehrt. Wie frisch alles noch ist, merkt man auch an der Antwort, mit der der Gemeindevorsitzende der Synagoge, Max Privorozki, auf die Reporterfragen antwortet. „Wir werden erst einmal verarbeiten, was passiert ist.“
„Ich hoffe, dass das ein Signal ist an Menschen, die hier Frust haben und rechte Parteien gut finden“, sagt der Mann vom Sushi-Restaurant. „Dieser Mann gestern hätte genauso gut einen von ihnen töten können. Die Frau, die er erschossen hat, die war hier im Viertel bekannt, einer meiner Mitarbeiter kennt sie. Sie war früher viel bei künstlerischen Veranstaltungen und Konzerten unterwegs. Wenn er sie getötet hat, hätte er auch jeden anderen töten können. Und dann hat er auf Bauarbeiter geschossen, die hier gearbeitet haben. Das hätte auch jeder hier sein können. Ich hoffe, die Menschen, die Frust haben, wachen jetzt auf.“
Mitarbeit: Daniel Schulz
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