DJ und Labelboss Marie Montexier: Die Extremklettererin
Marie Montexier brachte sich das Mixen selbst bei – und alles Weitere, was die DJ, Partyveranstalterin und Inhaberin der Plattenfirma Paryìa macht.
Der Track „House Nation“ von den Housemaster Boyz ist zweifellos eine dieser Dancefloor-Interkontinental-Raketen, die vor rund 40 Jahren in Chicago gezündet wurden, um einen weltweiten Siegeszug elektronischer Tanzmusik anzuzetteln. Seine Eingängigkeit ist simpel: Der hyperaktiv stotternde, endlos wiederholte Claim „House Nation“ steht in Kombination mit den präzise-melancholischen Akkorden, die Produzent Farley „Jackmaster“ Funk (alias Farley Keith Williams) untermischt, über die Jahrzehnte wurde „House Nation“ zum Nugget.
Wer vor wenigen Wochen dem „Paryìa-Fest“, einem Rave des gleichnamigen Labels am Berliner Plötzensee, beiwohnte, durfte dieses Prachtstück gleich aus den Händen der Hausherrin empfangen. An sich wäre das noch keine Meldung wert, denn das Ausgraben von Acid-House-Perlen aus Chicago hat Inflation – bei der Wahlberlinerin und Paryìa-Labelbetreiberin Marie Montexier wird der Einsatz trotzdem zur großen Partykunst.
Nicht nur, weil die junge DJ das Track-Tempo gezielt forciert, wichtig ist, welche Nummer Montexier wiederum auf „House Nation“ folgen lässt. Mit „Transformation“ von Transform knüpft sie an Chicago-Acid ein seltsam-verwunschenes Progressive-House-Stück. Dessen Urheber ist der alte Hase Tommi Eckart von 2raumwohnung – nach Chicago folgt bei Marie Montexier wie so oft Berlin.
Eklektizismus war vor rund zehn Jahren das Modewort der Danceszene. DJs verschrieben sich der bunt gewürfelten Auswahl, es wurde wilder und aufregender, bis dieser Hype ins Gegenteil umschlug. Aus Abenteuerlust wurde Beliebigkeit, und von der „Hauptsache, es macht Spaß“-Attitüde ging es leider zuletzt hin zu dekadenten Tempoverschärfungen, die Eurotrash und Plastik-Trance zur großen Kunst hochstilisieren.
Space Drum Meditation: „Swamp Spirit“; Nesa Azadikhah: „Tension“;Dj Babatr: „The Journey“
alle veröffentlicht bei (Parìya/Word & Sound)
Marie Montexier zählt ebenfalls zur Fraktion der Eklektizist:Innen, was sie jedoch grundsätzlich von vielen ihrer DJ-Kolleg*innen unterscheidet: Sie ist gefeit vor geschmacksarmen Schnellschüssen. Das liegt unter anderem daran, dass das Analysieren von DJ-Mixen und Live-Sets, vor allem in Bezug auf ihren Aufbau und ihre Dynamik und Platzierung, bei Montexier eine zentrale Rolle einnimmt. Bis heute untersucht sie auch akribisch die eigenen Sets.
Ohne Genregrenzen
Neben dem Handwerk („Wie baut man einen spannungsreichen Mix auf?“) steht dabei besonders die Auswahl im Fokus. In früheren Interviews gab Montexier an, vom britisch-amerikanischen Berliner Produzenten und DJ Objekt (alias TK Hertz) beeinflusst zu sein. Dieser ist für den versierten Einsatz unterschiedlichster elektronischer Klangsignaturen bekannt – so auch Montexier.
„Sich keine Genregrenzen zu setzen“, ist dementsprechend ihr Motto, was sich auch in ihrem Label Paryìa widerspiegelt: „Neben Breakbeat und House findet sich dort auch Ambient, experimenteller Sound oder Techno, aber auch mal Downtempo.“
Es ist ein breites Spektrum, das sich in den bisherigen sieben Veröffentlichungen abbildet. Den Anfang machte das Vinyl-Label mit einer Veröffentlichung eines langjährigen Begleiters, der dabei war, als Montexier ihre ersten Schritte als DJ machte: der deutsch-türkische Produzent a.b.u.303 mit kräftig-tribalen Technostößen, die von der Bass-Synthese einer Roland 303 angetrieben werden und die Basis eines düsteren Acid-Entwurfs osttürkischer Volksmusiken sind. Die Veröffentlichung erfolgte 2021 unter dem Titel „Anatolism“.
Werdegang mit Höhen und Tiefen
Eine Vorliebe für eigenständige und global inspirierte Percussion-Sounds lässt sich nahezu allen Tracks des Labels Paryìa attestieren, exemplarisch zu hören auf der „Tension“-EP der iranischen Künstlerin Nesa Azadikhah oder auf jener des Venezolaners Dj Babatr.
Diese Eigenständigkeit im Ausdruck verfolgt Montexier bereits seit ihrer ersten selbstgekauften Platte für den Club-Betrieb, die vom italienischen Deep-House-Produzenten Donato Dozzy stammt – eine weitere integre Figur der Szene. Doch es war ein steiniger Weg, bis Marie Montexier als DJ durchstarten konnte. Bereits als Kind erhielt sie in Siegburg bei Köln Geigenunterricht, beschreibt ihren Werdegang dennoch als von „starken Höhen und Tiefen“ geprägt.
Abitur machte sie auf dem zweiten Bildungsweg. Während der Berufsschulzeit musste sie nebenher jobben, um Geld für die Miete und Lebensunterhalt aufzubringen. „Ich habe am Wochenende drei, vier, manchmal fünf Schichten in Bars gearbeitet“, sonstige Unterstützung gab es keine.
Verdrängung der Arbeiterklasse
Stattdessen habe sie sich gezielt auf die Suche nach 5-Euro-Second-Hand-Platten gemacht, aber erst, nachdem sie sich von gesammeltem Trinkgeld einen eigenen Plattenspieler gegönnt hatte. Diese Erfahrung macht sie bis heute bescheiden. Die eigene Arbeit als DJ, wodurch sie auch zur Instagram-Persönlichkeit mit 45.000 Follower*innen wurde, als Veranstalterin in Köln, wo sie das FLINTA*-Kollektiv Precéy mit aufbaute, und vor allem als Labelmacherin von Paryìa Records stellt sie deutlich in den Dienst der Sache.
Faszinierend ist, welchen Weitblick Marie Montexier beweist. Sie reflektiert dabei nicht nur musikalische Wellenbewegungen und Trends, sondern tritt fast schon als notorische Analytikerin der weltweiten Dancefloor-Szene und ihrer Talente auf. Ihr Engagement geht über den innermusikalischen Diskurs hinaus.
„Ich sehe mit Sorge, wie durch die steigenden Kosten eine sozioökonomisch schwächere Schicht vom Dancefloor verdrängt wird“, sagt sie und verweist auf Studien, die ihre Sorge bestätigen. Eine wissenschaftliche Umfrage, die erstmals 2022 im Guardian erwähnt wurde, zeigt, wie der Neoliberalismus in Großbritannien zur Verdrängung der „Arbeiterklasse und ihrer Kinder“ in den kreativen Bereichen geführt hat. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Ähnliches auch für Deutschland attestieren lässt.
Als DJ immer erfolgreicher
Für Montexier ist das dennoch kein Grund zu resignieren. Sie nutzt die ihr gebotenen Netz-Plattformen, um zu gestalten, zu formen und jene zu unterstützen, die es brauchen: „Ich gebe den Support, den ich mir selbst in meinen Anfängen gewünscht hätte.“ Bei so viel Aufopferungsbereitschaft vergisst man fast, dass die junge Künstlerin und Musik-Managerin selbst als DJ immer erfolgreicher wird.
Ihre Bookingagentur hat alle Hände voll zu tun, vier Gigs an einem Wochenende sind keine Seltenheit. Und wenn das noch nicht reicht, jettet sie nach New York, um beim ikonischen Radiomoderator Tim Sweeney und seiner Internetradio-Sendung „Beats in Space“ live im Hörfunkstudio zu sitzen, zu reden und einen astreinen Mix abzuliefern.
Wie bleibt man bei solch einer Verantwortung für sich und andere körperlich und seelisch gesund? Montexier nimmt mittlerweile ihre Kletterschuhe überall hin mit – wenn sie nicht am DJ-Pult steht, dann klettert sie. Eine passende Metapher für eine DJ, die allein und ohne Sicherungsseil und Fallnetz die Karriereleiter hochkraxeln musste.
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