DGHS-Präsident über Sterbehilfe: „Lebenssattheit akzeptieren“

Der Bundestag debattiert am Freitag über die Sterbehilfe. Robert Roßbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), berichtet aus der Praxis.

Ein Notausgangsschild

Im vergengenen Jahr wurden in Deutschland fast 350 Fälle von Suizidhilfe gezählt Foto: imago images

taz: Herr Professor Roßbruch, am Freitag debattiert der Bundestag über drei Gesetzentwürfe zu einer Neuregelung des assistierten Suizids. Ihre Gesellschaft, die DGHS, vermittelt Ju­ris­t:in­nen und Ärz­t:in­nen für diese Begleitung. Was kritisieren Sie an den Gesetzentwürfen?

Robert Roßbruch: Alle drei Gesetzentwürfe sehen eine Beratungspflicht vor. Das lehnen wir ab. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom Februar 2020 ausdrücklich jedem Einzelnen das Recht auf einen freiverantwortlichen und selbstbestimmten Freitod und auch das Recht, dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen, zuerkannt. Daher brauchen wir keine Beratungspflicht für die Betroffenen, sondern nur eine Aufklärungspflicht durch den freitodbegleitenden Arzt.

Am Freitag, 24. Juni, werden im Bundestag drei parteiübergreifende Gesetzentwürfe zu einer Neuregelung der Suizidhilfe in erster Lesung verhandelt.

■ Der Entwurf der Abgeordnetengruppe mit Katrin Helling-Plahr (FDP) et al. sieht vor, dass sich Sterbewillige von staatlich anerkannten Stellen ergebnisoffen beraten lassen müssen, bevor ihnen ein:e Ärz­t:in ein todbringendes Medikament, auch das noch nicht zugelassene Natrium-Pentobarbital, verschreiben darf.

■ Laut dem Entwurf von Renate Künast (Grüne) et al. soll sterbewilligen Menschen in einer von Ärz­t:innen festgestellten medizinischen Notlage ein todbringendes Medikament verschrieben werden können. Andere Sterbewillige ohne eine solche Notlage müssen sich mindestens zweimal ergebnisoffen von einer unabhängigen Einrichtung beraten lassen.

■ Der Entwurf von Lars Castellucci (SPD) et al. will die „geschäftsmäßige“ Suizid­hilfe wieder unter Strafe stellen, es sei denn, Sterbewillige haben sich zuvor von zwei Psych­ia­te­r:in­nen ergebnisoffen begutachten lassen, um die „autonome Entscheidungsfindung“ zu garantieren.

Die Be­für­wor­te­r:in­nen der Gesetzentwürfe argumentieren, es brauche eine Art Schutzkonzept des Staates, um Menschen davor zu bewahren, sich aus einer „vorübergehenden Lebenskrise“ oder aus „psychosozialer Einflussnahme heraus“ das Leben zu nehmen. So heißt es etwa im Entwurf der Gruppe um den Abgeordneten Lars Castellucci (SPD). Ist dieses Anliegen nicht berechtigt?

Wir als DGHS haben schon ein eigenes Schutzkonzept. Dazu gehört unter anderem unser Beratungstelefon und vor allem unser Vieraugenprinzip. Das beinhaltet, dass nach unserer Vermittlung von Beginn der Beratung an über die Informationsgespräche bis hin zur ärztlichen Freitodbegleitung immer ein Jurist und ein Arzt beteiligt sind. Natürlich gibt es zum Beispiel auch Anrufer, die danach fragen, ob wir ihnen kurzfristig ein Medikament für den Freitod verschaffen könnten. So etwas machen wir natürlich nicht.

Was setzen Sie als DGHS voraus für einen ärztlich begleiteten Suizid?

Bei uns müssen die Antragssteller in der Regel mindestens ein halbes Jahr Mitglied in der DGHS sein. Sie schicken alle Arzt- und Krankenhausberichte an unsere Geschäftsstelle. Die Unterlagen werden dort geprüft. Gibt es Anhaltspunkte für eine schwere psychische Erkrankung, wird der Antrag abgelehnt.

69, ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), Rechtsanwalt, Lehrbeauftragter und Honorarprofessor. Die DGHS hilft Mitgliedern bei Patientenverfügungen, hat eine Beratungshotline und vermittelt Freitodbegleitung.

Roßbruch vertrat als Anwalt vor dem Bundesverfassungsgericht mehrere Beschwerdeführer, die die Abschaffung des Paragrafen 217 forderten, der die „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe seit 2015 unter Strafe gestellt hatte. Der Paragraf wurde gekippt.

Ansonsten gehen die Unterlagen an Ärzte und Juristen, die mit uns zusammenarbeiten. Diese machen dann getrennt voneinander jeweils einen Hausbesuch und führen dann auch später gemeinsam den begleiteten Freitod durch. Der Jurist ist Zeuge, der Arzt stellt das Medikament. Es ist ein Narkosemittel, das über eine Infusion, die der Patient selbst in Gang setzen muss, verabreicht wird. Insgesamt kostet diese Freitodbegleitung circa 4.000 Euro, inklusive der Honorare, Fahrtkosten und so weiter.

In der Statistik der DGHS und der Sterbehilfeorganisationen Dignitas und Sterbehilfe Deutschland gab es insgesamt fast 350 Fälle von Suizidhilfe im vergangenen Jahr. Die meisten Fälle sind Menschen mit Krebs- und neurologischen Erkrankungen. Bei Ihnen liegt in jedem sechsten Fall als Motiv „Lebenssattheit“ vor, wie die DGHS das nennt. Diese Leute haben gar keine schwere Erkrankung. Ist die Suizidhilfe dann nicht ethisch heikel?

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss keine schwere Krankheit vorliegen, das Motiv darf keine Rolle spielen, nur die Autonomie der Entscheidung muss gegeben sein. Bei diesen Fällen von Lebenssattheit handelt es sich oft um langjährige Mitglieder der DGHS, Menschen, die Ende 80, Anfang 90 sind, die vielleicht schon seit Jahren das Haus nicht mehr verlassen können, die kaum noch etwas sehen, die immobil sind, die isoliert und/oder inkontinent sind.

Sie sagen beispielsweise: ‚Ich habe ein tolles Leben gehabt. Aber jetzt möchte ich nicht mehr. Ich möchte auch nicht in ein Heim.‘ Aus den Gesprächsprotokollen, die unsere Ärzte und Juristen immer anfertigen, erkennt man, dass diese Menschen voll urteils- und entscheidungsfähig sind, da gibt es auch keine Anhaltspunkte für eine Depression oder Ähnliches. Diese Menschen haben sich auch mit den medizinisch-pflegerischen Alternativen auseinandergesetzt. Sie denken und handeln völlig rational, sodass es sich verbietet, dieses Verhalten zu psychiatrisieren.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

Be­für­wor­te­r:in­nen der Gesetzentwürfe warnen vor solchen Fällen und sagen, wenn sich Leute etwa aus Angst vor dem Pflegeheim das Leben nehmen, könnte das eine Art Modell werden, damit der Staat Geld spart und sich in den Pflegeheimen nichts ändern muss.

Ich bin Gesundheits- und Pflegerechtler und bin auch sehr dafür, dass sich in den Heimen die Zustände verbessern. Aber die Situation ist so, wie sie ist. Aus meiner Sicht muss man die Entscheidung der Menschen zwingend respektieren, die sagen: ‚Ich will nicht mehr und ich will auch nicht in ein Heim.‘ Im Übrigen sieht man etwa in der Schweiz, wo die Suizidhilfe schon lange erlaubt ist, dass es da keinen Dammbruch gab und die Zahl der Suizide auch bei Pflegebedürftigen nicht steil angestiegen ist. Die meisten Menschen hängen am Leben.

Be­für­wor­te­r:in­nen der Gesetzentwürfe äußern die Sorge, Angehörige könnten Druck ausüben auf Gebrechliche, sich das Leben zu nehmen, weil sie Geld und Mühen sparen wollen.

Das deckt sich nicht mit meinen Erfahrungen. Die Angehörigen wollen eher nicht, dass sich ein Suizidwilliger das Leben nimmt. Insbesondere die Ehepartner und Kinder klammern, die wollen ihren Ehemann oder Vater nicht gehen lassen.

In acht Fällen im vergangenen Jahr hat die DGHS doppelte Suizidhilfe bei Ehepaaren geleistet, auch wenn einer der Part­ne­r:in­nen gar nicht schwer krank war. Ist das nicht problematisch?

Die Ehepartner, die eine Doppelbegleitung wünschen, sind meist langjährige Mitglieder der DGHS, die über den gemeinsamen Freitod schon lange miteinander gesprochen haben. Ein Beispiel ist etwa ein Ehepaar, er 89, sie 86, seit 45 Jahren verheiratet. Sie haben dieselbe Position zum Leben und zum Sterben. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, jetzt geht es bei uns bergab, es wird peu à peu immer weniger. Der eine kann den andern nicht mehr versorgen. Der ambulante Pflegedienst, die Hauswirtschaftshilfe reichen nicht mehr aus. Für beide ist ein Heim keine Alternative zur Doppelbegleitung. Die sagen: ‚Jetzt ist es so weit‘, und wollen gemeinsam gehen.

Das erinnert ein wenig an die Witwenselbstverbrennungen früher in Indien …

Die mit uns kooperierenden Ärzte und Juristen führen bei den Doppelbegleitungen immer getrennte Gespräche mit den Ehepartnern, um auszuschließen, dass auf einen der Partner Druck ausgeübt wird. Wir hatten tatsächlich einen Fall, da hatten der Jurist und der Arzt bei den Vorgesprächen ein ungutes Gefühl, es wurde ein Psychiater hinzugezogen. Dieser stellte fest, dass die Frau ihr Leben lang von ihrem Mann fremdbestimmt worden war und dieser auch Druck ausgeübt hatte, sodass sie mitgegangen wäre. Das Antragsverfahren wurde dann abgebrochen.

Fragen eigentlich auch Demenzkranke bei Ihnen an und was machen Sie dann?

Im Frühstadium der Demenz ist die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit in aller Regel noch gegeben, sodass wir in diesen Fällen die Freitodhilfe vermitteln. In einem mittleren Stadium der Demenz wird ein entsprechender Facharzt hinzugezogen, der durch anerkannte Tests die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit einschätzt.

Was wäre denn Ihre Alternative für die Gesetzentwürfe?

Die beiden liberalen Gesetzentwürfe der Gruppen um die Abgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP) und Renate Künast (Grüne) werden von uns grundsätzlich begrüßt. Es bedarf jedoch wie gesagt keiner Verpflichtung für die Suizidwilligen, eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Befürworter verweisen oft auf die Beratungspflicht beim Schwangerschaftsabbruch.

Bei Schwangeren geht es aber noch um ein zweites, anderes Leben, außerdem sind das doch viel höhere Zahlen als wenige Hundert Suizidwillige, die eine professionelle Freitodbegleitung in Anspruch nehmen wollen. Wir vertreten die Ansicht, dass die Suizidhelfer eine Aufklärungspflicht haben, etwa auch über die Möglichkeit einer palliativen Versorgung.

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