Suizidassistenz und Strafrecht: Drei Jahre Haft wegen Suizidhilfe

Das Landgericht Essen hat einen Arzt zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er einem psychisch Kranken beim Sterben half. Es ist ein Präzedenzfall.

Aufnahme von Johann Friedrich Spittler.

Der Arzt Johann Friedrich Spittler bei einem früheren Gerichtstermin wegen Sterbehilfe 2019 Foto: Hendrik Schmidt/dpa

Berlin taz | Das Landgericht Essen hat einen Neurologen und Psychiater aus Datteln wegen der Suizidhilfe an einem psychisch kranken Mann am Donnerstag zu drei Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt. Der Fall könnte ein Präzedenzfall zur Frage werden, inwieweit die Suizidhlfe bei psychisch kranken Menschen zulässig ist oder nicht.

Das Gericht kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Suizidhilfe um einen Totschlag in mittelbarer Täterschaft in einem minderschweren Fall handele, sagte Gerichtssprecher Thomas Kliegel der taz. Die psychische Erkrankung des Suizidenten hätte dessen „freie Willensbildung aufgehoben“, so das Gericht. Der Mann habe an einer akuten psychischen Störung, einer „paranoiden Schizophrenie“ gelitten. Der Angeklagte habe mit seiner Suizidhilfe die Grenze zum Strafbaren „sehenden Auges“ überschritten.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Urteil im Februar 2020 zwar die ärztliche Suizidhilfe grundsätzlich erlaubt, aber betont, dass die „Freiverantwortlichkeit“ des Sterbewilligen bei seiner Entscheidung gegeben sein muss. Diese Freiverantwortlichkeit wurde vom Landgericht im vorliegenden Fall verneint.

Der Verurteilte ist der Neurologe und Psychiater Johann Spittler, 81, in der Suizidhilfe als Sterbehelfer bekannt. Er hat in mehreren hundert Fällen psychiatrische Gutachten für Sterbewillige angefertigt und auch bei vielen Suiziden ärztlich assistiert. Der 42jährige Oliver H. aus Dorsten, um dessen Fall es ging, hatte eine langjährige Psychiatriegeschichte hinter sich und Spittler 2020 kontaktiert und um ärztliche Hilfe zur Selbsttötung gebeten. Der Mann hatte bereits drei Suizidversuche ohne Hilfe durch Dritte hinter sich.

„Krankheitsbedingte Entscheidung“

Spittler untersuchte Oliver H. psychiatrisch und erstellte nach Auswertung ärztlicher Unterlagen ein Gutachten. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Sterbewillige unter einer „Residualsymptomatik nach mehrfachen paranoid-schizophrenen Erkrankungen, einer depressiven Störung sowie einer Sehminderung leide“, zitierte die Anklage. Besserungsmöglichkeiten sah der Psychiater nicht. Spittler war aber der Ansicht, dass die Einsichts- und Urteilsfähigkeit und damit auch die Freiverantwortlichkeit seines Klienten trotz der psychischen Erkrankung erhalten war.

Am 31.August 2020 legte Spittler Oliver H. im Beisein von dessen Mutter eine Infusion mit Thiopental, die der Suizidwillige selbst in Gang setzte und daran verstarb.

Zum Verfahren vor dem Landgericht waren mehrere Gutachter, Psych­ia­te­r:in­nen und auch ein Augenarzt zugezogen worden. Das Gericht kam zu dem Schluss, der Suizidwunsch beruhte nicht auf einer freien Willensentscheidung, sondern auf einer „erkrankungsbedingt und nicht realistisch begründeten Annahme, dass es für seine psychische Symptomatik und die Augenerkrankung keine Besserungsaussichten gegeben habe“, sagte Kliegel. Das Gericht warf Spittler unter anderem vor, dass er die augenärztlichen Befunde nicht eingesehen hatte.

Mildernde Umstände

Totschlag in einem „minderschweren Fall“ mit strafmildernden Umständen erkannte das Gericht, weil der Psychiater „aus Mitleid heraus“ gehandelt habe und nicht vorbestraft sei. Spittler hat auch aufgrund seines hohen Alters derzeit Haftverschonung. Er will in Revision gehen. (Az 32 Ks 5/23)

Das Urteil könnte Präzedenzwirkung entfalten, denn das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2020 in einem aufsehenerregenden Urteil die ärztliche Suizidhilfe zwar grundsätzlich erlaubt. Aber eine „freie Suizidentscheidung“ setze voraus, seinen Willen „frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden zu können.“

Über die Frage, ob und wann man Menschen mit einer psychischen Erkrankung die Freiverantwortlichkeit attestieren könne oder nicht, streiten seither die Jurist:innen, Psychiater:innen, Ethi­ke­r:in­nen und Politiker:innen. In Berlin ist ebenfalls ein Arzt wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft angeklagt, der Suizidhilfe bei einer schwer Depressiven leistete. Diese hätte laut Staatsanwaltschaft aber aufgrund einer akuten Phase der Depression keinen „freien Willen“ bilden können. Dieser Prozess beginnt Ende Februar.

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