„Cumhuriyet“-Chefredakteur bedroht: Gemeinsamer Hilferuf
DJV-Chef Frank Überall reist in die Türkei, um sich die Arbeitsbedingungen der OppositionsjournalistInnen anzusehen. Die Lage ist ernst.
Engin sitzt in einem Ledersessel im fünften Stock des hochgesicherten Redaktionsgebäudes der linksliberalen Tageszeitung Cumhuriyet in Istanbul. Seit rund einem Monat leitet er als „provisorischer Chefredakteur“ kommissarisch das linksliberale Blatt. Er hofft, nicht mehr lange. „Ich bin zu alt für diese Position und sehr müde“, sagt der 75-Jährige.
Bis vor Kurzem residierte in diesem Büro Can Dündar. Nach einer Anzeige von Staatspräsident Tayyip Erdoğan wurde er zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Hauptstadtkorrespondent Erdem Gül erhielt fünf Jahre. Anlass war ein Bericht über geheime Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien. Doch das Urteil ist nicht der Grund, dass sich Dündar eine Auszeit genommen hat. Es habe eine „sehr ernst zu nehmende Todesdrohung“ gegen ihn gegeben, berichtet Engin.
Deswegen befinde sich der 55-jährige Journalist, der in der vergangenen Woche in Hamburg vom Netzwerk Recherche den Preis „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ verliehen bekam, jetzt im Ausland. „Ich bin völlig sicher, dass er im August wieder hier sein wird“, sagt Engin. „Es ist mir ein Herzenswunsch, dass er zurückkommt und den Job wieder übernimmt.“
„Wir dürfen nicht wegschauen“
Frank Überall hat aufmerksam zugehört. Die Cumhuriyet ist eine von mehreren Redaktionen, die der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) an diesem Montag besucht, um sich vor Ort ein Bild über den Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei zu machen – und seine Solidarität zu bekunden. „Wir dürfen nicht wegschauen“, sagt er. „Deshalb bin ich nach Istanbul gereist – um hinzuschauen und öffentlich aufzurütteln.“
Überall ist empört über das, was ihm die KollegInnen der Tageszeitungen Evrensel, BirGün und Özgür Gündem sowie der Fernsehsender Hayatın Sesi und IMC berichten. Was sie verbindet: Sie stehen in Opposition zum autokratischen Erdoğan und seiner AKP-Regierung – und das hat Folgen. „Es ist bedrückend zu sehen, dass Kolleginnen und Kollegen massenweise willkürlich verfolgt werden, nur weil sie professionell ihren Job machen“, sagt er.
„Es hagelt Strafen“, berichtete ihm Arif Kosar, der Programmkoordinator des kleinen linken Fernsehsenders Hayatın Sesi. Alleine fünf habe es in den vergangenen sechs Wochen gegeben, unter anderem weil sich der Sender nicht an eine Nachrichtensperre nach einem Anschlag gehalten habe.
Ordner, prall gefüllt mit Klagen
Bei der undogmatisch-linken Tageszeitung BirGün wurden Überall vier prall gefüllte blaue Aktenordner präsentiert. Sie enthalten die Verfahren, die allein im vergangenen und in diesem Jahr wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten gegen die Tageszeitung eingeleitet wurden. „Wenn auf einer Demonstration ‚Räuber, Mörder, Erdoğan‘gerufen wird und wir das zitieren, ist das schon ein Grund für ein Verfahren“, sagte Geschäftsführer Ibrahim Aydın.
Die prokurdische Özgür Gündem hat mittlerweile weit über hundert Verfahren am Hals, in der Regel wegen vermeintlicher Propaganda für die verbotene PKK. „Seit Herbst letzten Jahres wurde gegen jede Ausgabe unserer Zeitung vorgegangen“, berichtete Redakteur Davut Ucar.
„Die Mittel des Rechtsstaates werden in der Türkei so weit ausgelegt, dass sie missbraucht werden, um die Pressefreiheit zu beschneiden“, resümiert DJV-Chef Überall. Er hält die aktuelle Ausgabe der Cumhuriyet in der Hand. Wie auch bei BirGün, Evrensel und Özgur Gündem steht oben rechts auf der Titelseite nun eine Woche lang in blauer Schrift: „Gazetecilik Suç Değil“ – Journalismus ist kein Verbrechen. Es ist ein gemeinsamer Hilferuf.
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