Crack in Berlin: Die Ohnmacht im eigenen Kiez
In Kreuzberg sollen jetzt nachts die Türen abgeschlossen werden. Es droht eine Entsolidarisierung mit Drogenopfern, weil man selbst Opfer von Drogen wird.
W ie schreibt man in der taz anekdotisch über das Thema innere Sicherheit, ohne direkt aufs links-alternative Mäulchen zu kriegen? Öh, na ja, mein ursprünglich angedachter Einstieg schlug direkt fehl. Denn entgegen meiner Erinnerung wird „innere Sicherheit“ doch nicht großgeschrieben. Sonst hätte ich smart darauf hingewiesen, dass nicht die großgeschriebene gemeint sei: jene mit Stacheldraht umzäunte Spielwiese alter Herren vom Schlage eines Manfred Kanthers oder Otto Schilys. Es ginge und geht um meine eigene innere Sicherheit.
Was ich eigentlich sagen will: Wir hier in Kreuzberg 36 schließen uns inzwischen in unseren Wohnhäusern ein. Nicht in allen Kiezen, Tendenz jedoch steigend. Die Klingelanlage allein reicht jedenfalls nicht mehr aus, so sie überhaupt funktioniert. Fern jeder Hetze auf dem Boulevard ist das unsere schlichte Anwohner-Empirie. „Liebe Hausbewohner:innen, bitte die Haustür ab 21:00 abschließen. Es gab Einbrüche und Angriffe in letzter Zeit. Danke!“, prangt es seit zwei Wochen nicht zum ersten Mal auf einem Zettel an unserer Wand über den Briefkästen.
In anderen Teilen Berlins mag das Abschließen der Haustür schon seit der Kreidezeit Usus sein, in unserem Kiez hatte das in den vergangenen zwanzig Jahren keine mir bekannte Tradition. Es handelt sich nicht um räuberisch marodierende Banden, die nun die innere Sicherheit der Mehrfamilienhäuser bedrohten und einzig Angelegenheit der Polizei wären.
Die Sache ist vertrackter! In Zeitlupe zerfallen vor unseren Augen immer mehr Menschen aller Altersgruppen und Geschlechter. Einhergehend mit Aggressivität und extremer Unberechenbarkeit. Dafür verantwortlich ist der Konsum von Crack, wahlweise zusammen mit Schmerzmitteln, Alkohol und sonstigen Substanzen. Und natürlich wirkte die Pandemie wie die Flamme unter der Alufolie.
Crack macht rastlos und schafft Stress
Seit Jahren wird Berlin mit Kokain, dem Grundstoff für Crack, geflutet. Crack macht im besten Fall rastlos und stellt Konsument:innen unter Stress, im schlimmsten Fall drehen sie auf Dauer durch. Dem sehr kurzen, aber intensiven Kick folgt direkt die Jagd nach dem nächsten. Auf der Suche nach einer ruhigen Ecke für die nächste Dosis und einem Schlafplatz treibt es Betroffene in die Häuser – und in die Beschaffungskriminalität.
Einst gehörte es zum „guten“ Kreuzberger Ton, den damals wenigen (!) Leuten den Platz im Treppenhaus zu lassen. Solange nicht in Gegenwart von Kindern konsumiert wurde und Gewalt keine nennenswerte Rolle spielte. Zwischen Kotti und Schlesi droht nun eine Welle der Entsolidarisierung mit Drogenopfern, weil man selbst Opfer von Drogen wird.
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Wie so oft fühlen sich Nachbarschaften von Politik und Behörden allein gelassen. Meist soll es die schlichteste aller Lösungen sein: Verdrängung. Breit umgesetzte sozialpolitische und damit nachhaltige Maßnahmen bleiben weitgehend aus. Es sind engagierte zivilgesellschaftliche Einrichtungen und die Nachbarschaften selbst, die Hilfe organisieren.
Bislang kommt meine Gegend vergleichsweise glimpflich davon. Für eine Ahnung von den uns demnächst buchstäblich ins Haus stehenden möglichen Zuständen reicht ein Blick in den lange schon gebeutelteren Wrangelkiez. Dort geht es ganz anders zu: In einigen Fällen seien schon Wohnungstüren eingetreten und Mieterinnen bedroht worden, berichten Bekannte.
Ob die Polizeiwache am Kottbusser Tor, mehr Razzien im Görlitzer Park oder symbolträchtige Spaziergänge des Senats durch den Kiez: Welchen Beweis braucht es eigentlich noch, dass restriktive „Law & Order“-Politik allein kein Ausweg ist? Haustüren abschließen auf Dauer leider auch nicht…
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