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Coronazahlen und WahlkampfNichtstun ist keine Option

Malte Kreutzfeldt
Kommentar von Malte Kreutzfeldt

Gesundheitsminister Spahn will die Corona-Inzidenz aus dem Gesetz streichen. Das dürfte weniger epidemiologische denn wahlkampftaktische Gründe haben.

Vorbereitungen für einen Coronapatienten am Klinikum Leer Foto: Sina Schuldt/dpa

A uch Gesundheitsminister Jens Spahn will jetzt die Inzidenz der Coronaneuinfektionen als Indikator aus dem Gesetz streichen. Hohe Fallzahlen könnten der Politik dann egal sein – berücksichtigt werden soll stattdessen die Zahl der Coronapatient*innen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen.

Aus epidemiologischer Sicht ergibt dieser Vorschlag wenig Sinn. Zwar hat sich durch die zunehmende Zahl der Geimpften die Aussagekraft der Inzidenz geändert – der Anteil der Infizierten, die ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation müssen, ist dadurch geringer geworden. Aber einen klaren Zusammenhang gibt es weiterhin: Wenn die Zahl der Neuinfektionen steigt, erhöht sich kurze Zeit später auch die Zahl der Co­ro­na­pa­ti­en­t*in­nen im Krankenhaus.

Die Inzidenz bleibt damit ein wichtiger Frühindikator. Dazu kommt, dass die Zahl der Hospitalisierungen derzeit noch recht unzuverlässig ist, wie widersprüchliche Definitionen und starke nachträgliche Änderungen der Werte zeigen.

Doch gesundheitspolitische Überlegungen dürften bei der Abkehr von der Inzidenz ohnehin weniger relevant sein als der Wahlkampf von CDU-Chef Armin Laschet. In dessen Bundesland steigt die Inzidenz derzeit nämlich mit großer Geschwindigkeit an: NRW liegt mit einem Wert von über 100 bundesweit an der Spitze und müsste eigentlich handeln. Doch indem jetzt auch der CDU-Gesundheitsminister die Inzidenz für irrelevant erklärt, hilft er mit, von Laschets Versagen bei der Coronapolitik abzulenken und notwendige Gegenmaßnahmen herauszuzögern.

Ob diese Strategie aufgeht, bleibt abzuwarten. Denn auch die Zahl der Co­ro­na­pa­ti­en­t*in­nen in Krankenhäusern und auf Intensivstationen steigt derzeit stark, und auch dort ist NRW besonders betroffen. Setzt sich das exponentielle Wachstum mit dem derzeitigen Tempo fort, könnte es noch vor der Bundestagswahl lokal wieder zu Engpässen kommen, die Laschet zu verantworten hätte. Denn eins ist klar: Mit Nichtstun wird sich die vierte Welle nicht stoppen lassen.

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11 Kommentare

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  • Die von Herrn Spahn geplante und vom Nordrhein-Westfälischen "Entfesselungsfan" Laschet befürwortete Abschaffung des Inzidenzwertes zeugt von beängstigender Abwesenheit gesunden Menschenverstandes.



    Das ist - aus meiner Sicht - vergleichbar mit einer Abschaffung der Eiswarnung in der Schifffahrt.



    Es würde dann ja auch reichen, nur noch die Anzahl der nach Havarien besetzten Rettungsboote zu zählen.



    Herr, bitte lasse baldmöglichst Hirn regnen.

  • Wo wir grade beim Streichen sind:



    Zeit den Spahn aus der Liste der Abgeordnetenkandidaten zu streichen.

    Der hat jetzt genug Schaden angerichtet.

  • Hingen Hospitalisierungen und Inzidenz nicht schon immer zusammen. Was begründete die bisherigen Werte wenn nicht die Kapazität des Gesundheitssystems?

    Dann macht es doch Sinn auch die zugrunde liegenden Basiswerte zu nutzen.

    • @Rudolf Fissner:

      Ich lese gerade, dass die 50er Grenze sich an den Kapazitäten der Gesundheitsämter orientierte, bei der eine Nachverfolgung noch irgendwie möglich ist. www.sueddeutsche.d...te-50-35-1.5208343

      Ein Heraufsetzen der Grenze halte ich für Sinnvoll. Schon allein deswegen, weil, Kinder (als die größteGruppe der Ungeimpften) nur selten schwer erkranken bzw. bei Risikogruppen dort schnell geimpft werden kann. Auch wäre es fatal, wenn Impfgegner Lockdowns bestimmen.

      Der Vorstoß von Spahn ist sinnvoll. Die Krankenhauskapazitäten können ja auch wieder auf Inzidenzwerte abgebildet werden.

  • > "Auch Gesundheitsminister Jens Spahn will jetzt die Inzidenz der Coronaneuinfektionen als Indikator aus dem Gesetz streichen. Hohe Fallzahlen könnten der Politik dann egal sein – berücksichtigt werden soll stattdessen die Zahl der Coronapatient*innen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen."

    Aus der Sicht von Regelungstechnik - und darum geht es hier ja, die Inzidenz oder andere Werte als Regelparameter für Stufenpläne und politische Entscheidungen - ist das kompletter Schwachsinn.

    Weil:

    1. Die Inzidenz wird durch Tests erfasst und lässt sich leicht messen

    2. Wir wissen relativ gut (auf jeden Fall gut genug), ein wie hoher Teil der Bevölkerung in jeder Altersgruppe geimpft ist

    3. Wir wissen, wie hoch in jeder Altersgruppe bei einer Infektion ohne Impfung das Risiko sein wird, dass diese zu einer Hospitalisierung führt

    4. Wir wissen auch so etwa, wie hoch das Restrisiko einer Hospitalisierung bei Menschen ist, die trotz Impfung eine Infektion bekommen - es ist nicht sehr hoch, im Moment fast vernachlässigbar gegen den Fällen ohne Impfung

    5. Hospitalisierungen, Intensivbehandlungen und Todesfälle sind Folge von Infektionen. Wir wissen weiterhin recht gut die Statistik, in welcher Zeit Infektionen zu Hospitalisierungen, Intensivbehandlungen und Todesfällen führen. Das sind z.T. mehrere Wochen.

    Folglich:

    Anhand der bekannten Daten kann man aus den altersabhängigen Inzidenzzahlen die Zahl der zukünftigen Intensivbehandlungen und Todesfälle sehr gut und einfach abschätzen. Mit dem Unterschied, dass man sie Wochen früher weiß, also viel besser und prompter reagieren kann. Das spricht nicht mal dagegen, weitere Zahlen zu berücksichtigen, aber je schneller mal reagieren kann, desto besser ist die Reaktion. Grundwissen Regelungstechnik.

    Ergo: Statt auf die Inzidenzzahlen nur auf Krankenhauseinweisungen zu gucken, bringt *keine* zusätzliche Information, sondern verschenkt nur Zeit. Das wäre nur rational, wenn man gar nicht wirklich etwas unternehmen will.

    • @jox:

      Mein letzter Stand war, dass die zeitliche Entwicklung der Inzidenz, also quasi der R-Wert zusammen mit der Krankenhausbelegung das Hauptkriterium bilden soll. So wäre es zumindest sinnvoll.

      Dass ein bei viel geringerer Impfquote festgelegter Absolutwert der Inzidenz heute nicht mehr sinnvoll ist, sollte doch eigentlich logisch sein.

      • @Co-Bold:

        > "Dass ein bei viel geringerer Impfquote festgelegter Absolutwert der Inzidenz heute nicht mehr sinnvoll ist, sollte doch eigentlich logisch sein."

        Das übersieht, dass nach wie vor die Inzidenz die Zahl infizierter Menschen abbildet. Eine Inzidens von beispielsweise 100 heisst nach wie vor, dass sich 100 von 100000 Menschen infiziert haben.

        Dagegen werden jetzt die Impfungen angeführt - aber die Zahl der Infektionen bei Menschen mit Impfung ist viel niedriger, sie bilden nur einen kleinen Teil der neu Infizierten. Das bedeutet, dass eine Inzidenz von 100 immer noch eine Zahl nahe an 100 nicht geimpften Menschen bedeutet, genau wie vorher.

        Anders wäre das, wenn alle Menschen die schwer oder chronisch krank werden können (Long Covid eingeschlossen), eine 100 % wirksame Impfung hätten. Aber das ist nicht die aktuelle Situation.

        • @jox:

          Sie werden zu keinem Zeitpunkt 100% haben, weder bei Impfungen, noch bei Behandlungsmöglichkeiten.

          Wir haben das erreichbare Ziel erreicht, nämlich jedem ein Impfangebot zu machen, der eine signifikante Gefährdung aufweist, von ein paar wenigen Gruppen abgesehen, denen man aber realistisch nie ein Impfangebot machen können wird.

          Es gibt genau ein weiteres realistisches Ziel: jedem, der jetzt noch ohne Impfung ersterkrankt eine gute Behandlung zu ermöglichen.

          Alle weiteren Maßnahmen verlängern lediglich die Pandemie.

          Eine Impfpflicht wäre eine weitere realistische Möglichkeit gewesen, allerdings hat man diese bereits relativ früh ausgeschlossen.

    • @jox:

      Die progostische Fähigkeit der Inzidenzzahlen ist so gut, dass sie nicht zu benutzen, fast so ist wie wenn man den Politikern eine märchenhafte ziemlich gut funktionierende Kristallkugel geben könnte, welche die Zukunft vorhersagt -- und sie wollen diese nicht benutzen.

      Warum?

      • @jox:

        Weil die Zukunft, die sie darin sehen können, ihnen nicht gefällt und solange sie sie nicht sehen müssen, können sie so tun, als sei sie total toll.

        Momentan ist vor allem Wahlkampf.

  • RS
    Ria Sauter

    Jetzt werden zusätzlich zu Fähnchen, Kugelschreiber, Windrädchen Freiheitsleckerlis verteilt.

    Fragt noch irgendjemand warum es Politiker:innenverdrossenheit gibt?