Coronamutation in Großbritannien: Londons leere Straßen
Alarmstufe 5 in Großbritannien: Das mutierte Virus ist so ansteckend, dass man nur noch aus triftigen Gründen aus dem Haus darf.
Londons Straßen sind an diesem Dienstag so ruhig wie an einem Sonntagmorgen. Vereinzelt sind Lieferfahrzeuge zu sehen, die öffentlichen Verkehrsmittel sind nahezu leer. Nur vor den größeren Supermärkten stehen noch Menschen in ordentlichen langen Schlangen und warten, hineingelassen zu werden, sobald jemand anderes herauskommt.
Am Montagabend war der britische Premierminister Boris Johnson vor die Kameras getreten und hatte sich, umrahmt von zwei britischen Flaggen, an die Bevölkerung gerichtet. Alle müssten ab sofort zu Hause bleiben, sagte er. Dies war die Ankündigung der schärfsten Maßnahmen gegen Covid-19 im Vereinigten Königreich seit dem ersten Lockdown im März.
Grund ist die neue, überwiegend in Großbritannien festgestellte Mutation des Coronavirus, die, so Johnson, „zwischen 50 und 70 Prozent ansteckender“ sei als die bisherigen Varianten. Ohne Gegenmaßnahmen, so die Behörden, wären innerhalb von drei Wochen alle britischen Krankenhäuser überlastet. Die Zahl der Covid-19-Patienten in Krankenhäusern stieg innerhalb von nur einer Woche um ein Drittel auf rund 27.000, sie ist jetzt 40 Prozent höher als beim bisherigen Rekord im April, mit einem gleichzeitigen Anstieg der Todesrate um 20 Prozent. Am Montag verbuchte das Vereinigte Königreich 58.784 Neuinfektionen – ein Rekord. Vor allem im Großraum London nimmt die Zahl der Erkrankten dramatisch zu, während sie in den früheren Hochburgen des Virus im Norden Englands eher leicht rückläufig ist.
Die am Montag von Johnson verkündete „Notstufe 5“ – sie gilt in England, aber Schottland, Nordirland und Wales haben jeweils ebenfalls Lockdowns verhängt – ist drakonisch. In der bisherigen Höchststufe 4 durften Brit*innen noch so oft raus, wie sie wollten, und bis zu eine Person eines anderen Haushalts treffen. Jetzt darf man nur noch zum Lebensmitteleinkaufen, zu einem ärztlichen Termin oder einmal täglich zur sportlichen Betätigung das Haus verlassen – oder, fügte Johnson hinzu, zur Flucht vor häuslicher Gewalt. Religiöse Stätten bleiben geöffnet, aber alle Sportstätten und Schwimmbäder inklusive jener an der frischen Luft bleiben für die Öffentlichkeit geschlossen. Brit*innen sollten nicht aus der eigenen Wohngegend reisen. Nur wer nicht von zu Hause aus arbeiten kann, darf zur Arbeit raus. Einreisende nach Großbritannien müssen einen negativen Test vorlegen.
Expert*innen hatten schon lange vorher gewarnt
Was britische Schulabschlüsse für dieses Jahr betrifft, kündigte Boris Johnson an, seine Regierung würde an einer Sonderregelung arbeiten, wie Schüler*innen dieses Jahr bewertet werden sollten. Seit Dienstag gibt es nur noch Schulunterricht per Videolink. Kindern von systemrelevanten Arbeitskräften und verletzliche Kinder können jedoch weiterhin in die Schule gehen. Kindertagesstätten und Kinderspielstätten bleiben offen.
Der nationale Polizeirat NPCC gab an, dass die genaue Art der Überwachung dieser Regeln noch ausgearbeitet werden müsse. Menschen, die mehrmals gegen Regeln verstießen, erhielten jedoch in den vorherigen Lockdowns bereits Bußgelder. Zwischen März und November wurden in England und Wales 24.933 Strafen verhängt, 80 Prozent davon an Menschen unter 29 Jahren.
Unter anderem die Labour-Opposition kritisierte Johnsons Maßnahmen als wieder einmal verspätet, da bereits vergangene Woche Expert*innen vor einer Katastrophe gewarnt hätten. Er hoffe jedoch, sagte der Premier am Montag zum Ende seiner Rede, dass durch das britische Impfprogramm bis Mitte Februar alle Menschen in den vier höchsten Prioritätsgruppen geimpft werden könnten. Insgesamt sind das 13,2 Millionen Menschen.
„Wettlauf gegen die Zeit“
Großbritannien hatte am 8. Dezember als erstes Land der Welt Pfizer/BioNTech-Impfungen gegen Covid-19 gestartet. Bis zum 27. Dezember wurden damit 944.539 Personen geimpft, seit Montag werden auch die ersten 530.000 Dosen des neu zugelassenen Impfstoffs von Oxford/AstraZeneca verabreicht. Hierfür wurde von der Regierung im Einklang mit medizinischen Berater*innen der Abstand zur zweiten Spritze von drei Wochen auf zwölf Wochen erhöht. Qualitätsprüfungen der Lieferungen haben aber auch in Großbritannien zu leichten Verzögerungen geführt, und es ist nicht gewiss, ob das britische Ziel von zwei Millionen Impfungen pro Woche erreicht werden kann.
Davon aber hängt ab, wie lange die neuen scharfen Maßnahmen gelten. Boris Johnson nannte dafür am Montagabend keinen festen Termin. Er stellte aber Mitte Februar in Aussicht, falls die Impfungen von Risikogruppen wie vorgesehen bis dahin abgeschlossen seien. Am Dienstag aber sagte Kabinettsminister Michael Gove, Großbritannien befinde sich in einem „Wettlauf gegen die Zeit“, und: „Anfang März müssten wir in der Lage sein, einige Maßnahmen zu lockern, aber nicht unbedingt alle.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern