Coronamaßnahmen in der Schweiz: Shoppen und Ski fahren ohne Reue?
In der Schweiz breitet sich das Coronavirus im europäischen Vergleich besonders schnell aus. Trotzdem gibt es keinen harten Lockdown.

Dabei sind die Fallzahlen derzeit so hoch wie in keinem anderen europäischen Land: Zwischen 4.000 und 6.000 Neuninfektionen werden jeden Tag gemeldet, Tendenz steigend. Die Anzahl insgesamt gemeldeter Infektionen pro Million Einwohner:innen war zuletzt dreimal so hoch wie in Deutschland. Der kritische R-Wert von 1 ist längst überschritten, die zertifizierten Betten auf den Intensivstationen sind zu rund 90 Prozent belegt.
Wirtschaftsverbände und bürgerliche Parteien legten seit Oktober trotzdem alles daran, einen zweiten Lockdown zu verhindern. Wochenlang scheute sich auch die Regierung davor, bundesweite Maßnahmen zu ergreifen, denn die Pandemiebekämpfung sei „Sache der Kantone“, wie der Leiter des Bundesamts für Gesundheit, Alain Berset, in den vergangenen Wochen gebetsmühlenartig betonte. Und das, obwohl die Covid-Science-Task-Force des Bundes längst auf bundesweite Maßnahmen drängte.
Zwar leiteten einzelne Kantone Schritte ein, etwa der Kanton Basel-Stadt, wo alle Restaurants ihren Betrieb einstellen mussten, und Genf, wo Geschäfte schließen mussten. Doch die Fallzahlen stiegen weiter, denn viele Menschen pendeln täglich über die Kantonsgrenzen hinweg. Und die unübersichtlichen Regeln führten zu Verwirrung in der Bevölkerung und zu Konkurrenzdruck zwischen den Kantonen.
Einzelhandel bleibt vor Weihnachaten offen
Nach langem Hin und Her beschloss der siebenköpfige Bundesrat am Freitag dann doch Maßnahmen. Ab kommendem Dienstag müssen Gastrobetriebe, Sportzentren, Freizeiteinrichtungen und Kultureinrichtungen im ganzen Land die Türen schließen. Schulen und der Einzelhandel bleiben aber offen.
Ärzt:innen und Pfleger:innen berichten seit Wochen von Überarbeitung, von Patient:innen, die nicht operiert werden konnten, und von überfüllten Intensivstationen. Zuletzt forderte selbst der konservative Wirtschaftsverband Economiesuisse strenge Pandemieregeln. Für viele sind die jetzt beschlossenen Maßnahmen eine unzureichende Antwort. Schließlich geht das Weihnachtsgeschäft in den Innenstädten ungestört weiter und es gibt keine Verpflichtung zum Homeoffice, nur eine Empfehlung.
Insgesamt dürften die Maßnahmen die Infektionszahlen wohl eher stabilisieren, als sie zu drücken. So kritisierte der Experte für Epidemiologie an der Universität Bern, Christian Althaus, auf Twitter, dass einzelne Kantone, wenn sie einen lokalen R-Wert unter 1 vorweisen können, die Maßnahmen lockern dürfen. Der Kanton Wallis mit einem R-Wert von 0,98 etwa, lässt Restaurants und Skigebiete offen.
Die Schweiz ist neben Österreich das einzige Alpenland, das die Skigebiete nicht verbindlich schließen wollte – zum Ärger der angrenzenden Skinationen Deutschland und Italien. Einzelne Kantone wie Schwyz, Zug und Appenzell schlossen ihre Skigebiete schließlich trotzdem.
Es ist ein Kernelement der politischen Kultur in der Schweiz, das in der Pandemie zur Hürde wird: der Föderalismus. Der Bundesrat regiert ungern, normalerweise verwaltet er eher. Die strengen Verordnungen im Frühjahr waren für den Bundesrat, der in einer ständigen Koalition aus allen großen Parteien besteht, ungewöhnlich. Nur sehr zögerlich nimmt er diese Verantwortung jetzt erneut auf sich.
Zuletzt konnten die Behörden in der Schweiz wieder erfreuliche Nachrichten verkünden: Als erstes Land weltweit wurde der Impfstoff BionTech hier in einem regulären Verfahren zugelassen. Bereits diese Woche soll die Impfkampagne starten.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Gedenken an Hanau-Anschlag
SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße