Coronafälle in Hersfeld-Rotenburg: „Alarmsignale“ bei Amazon
In Nordhessen soll ein Amazon-Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt sein, es gibt Gerüchte über weitere Fälle. Geschäftsleitung und Behörden wiegeln ab.
„Es sind Alarmsignale da“, sagte Verdi-Gewerkschaftssekretärin Mechthild Middeke der taz; von 30 bis 40 Infektionen allein am Amazon-Standort „Blaue Liede“ habe sie gehört. Sowohl das Unternehmen als auch das Kreisgesundheitsamt verweigern konkrete, auf das Unternehmen bezogene Zahlen. Auch die Arbeitnehmervertretung beklagt Informationsmängel. „Man weiß nicht richtig, wo man dran ist“, sagt Betriebsrat Christian Krähling. „Es verschwinden immer mal wieder welche, man weiß nicht, ob sie sich infiziert haben oder in Quarantäne müssen“, sagt er.
Der Vorsitzende des Betriebsrats will wegen der brisanten Situation nicht mit der taz sprechen. Immerhin war zu erfahren, dass der Betriebsrat eine Klage gegen das Unternehmen vorbereitet. Er sieht seine Mitbestimmungsrechte verletzt. „Es werden nur Durchsagen gemacht, dass es aktuelle Fälle gibt. Die Belegschaft ist hochgradig verunsichert. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung ist hochgradig gestört“, klagt ein anderes BR-Mitglied gegenüber der taz.
Die Amazon-Geschäftsleitung zeichnet dazu ein anderes Bild. „In enger Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat haben wir in kürzester Zeit umfassende Covid-19-Maßnahmen zum Schutze der Mitarbeiter umgesetzt. Im Rahmen des regelmäßigen Austausches mit dem Betriebsrat haben wir diesen über alle wichtigen Entwicklungen informiert“, erklärte Amazon-Sprecher Thorsten Schwindhammer der taz.
Positiver Coronatest bei Amazon-Mitarbeiter
Mehr als 60 „proaktive“ Einzelmaßnahmen führt Schwindhammer auf: Abstandsregeln, Einbahnwege, Plexiglasscheiben, zusätzliche Pausen. Alle MitarbeiterInnen müssen zudem auf Anordnung des Gesundheitsamts einen Mund-Nasen-Schutz tragen, vor Betreten des Betriebs wird die Temperatur gemessen. Wer Fieber hat, wird heimgeschickt und „soll“ einen Arzt aufsuchen.
Doch auch diese Regeln sind nicht unumstritten. „Wer die schwere körperliche Arbeit mit Mundschutz nicht schafft, muss sich krankmelden oder unbezahlten Urlaub nehmen“, beklagt Gewerkschaftssekretärin Middeke; es gäbe vielleicht Bereiche, in denen man auf einen Mundschutz verzichten könnte, meint sie. „Nicht alle mit Corona Infizierten haben Fieber“, sagt ein Arzt aus einem Nachbarkreis der taz. Nach seiner Meinung müssten alle Verdachtsfälle den Behörden gemeldet werden.
Der Allgemeinmediziner hatte sich an die Gewerkschaft Verdi gewandt. In der vergangenen Woche sei ein Amazon-Mitarbeiter in seiner Praxis positiv auf das Virus getestet worden, sagt der Arzt, der anonym bleiben möchte. Als seine Mitarbeiterin den Fall am Wochenende dem Gesundheitsamt habe melden wollen, sei ihr mitgeteilt worden, es bestehe kein Handlungsbedarf, „obwohl der Mann als Springer eingesetzt war“, sagt der Mediziner.
Amazon und Behörde weisen seine Darstellung zurück. Das Kreisgesundheitsamt erklärte, ohne auf den konkreten Fall einzugehen: „Einer Kontaktverfolgung von potenziell/nachweislich Infizierten kommt das Gesundheitsamt mit größtmöglicher Sorgfalt nach. Hierbei wird sämtlichen Verdachtsmomenten nachgegangen. Bei der Verfolgung möglicher Kontaktpersonen werden die vom Robert-Koch-Institut empfohlenen Vorgehensweisen angewandt.“
Hotspot oder Entwarnung?
Und auch der Amazon-Sprecher widerspricht der Darstellung des Arztes. „Das halten wir für Unsinn und schlicht falsch. Wir arbeiten eng mit dem Gesundheitsamt zusammen und reagieren prompt“, so der Sprecher.
Die Behörde signalisiert inzwischen sogar Entwarnung: „Die Ermittlungen des Gesundheitsamts im Landkreis Hersfeld-Rotenburg haben ergeben, dass die zuletzt bestätigten Infektionen im Landkreis mit Freizeitunternehmungen und Feierlichkeiten im privaten und familiären Umfeld in Verbindung zu setzen sind“, erklärt der Landkreis. Was man bisher wisse, deute nicht auf eine Ansteckung am Arbeitsplatz hin, einen „Corona-Hotspot“ im Landkreis gebe es nicht. Die bestätigten Fälle seien „über das gesamte Kreisgebiet“ verteilt, so der Landkreis.
Einer der Amazon-Betriebsräte zweifelt im Gespräch mit der taz aber an dieser Darstellung: „Wie wollen sie das sicher festgestellt haben?“
Amazon sucht gerade online für den Standort Bad Hersfeld neue MitarbeiterInnen. In der Anzeige verspricht das Versandhandelsunternehmen neben 11,52 Euro Stundenlohn ein „spannendes Arbeitsumfeld“. Der Betriebsrat hat allerdings beschlossen, Neueinstellungen so lange nicht mehr zuzustimmen, bis die Geschäftsleitung ihren Informationspflichten nachkommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl